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Reisebericht: Eine kleine Wanderung durch die Mark

Da ich seit 1996 jedes Jahr eine mehrtägige Wintertour mache, ist das wohl ein Ritual. Eigentlich hätte es eine Schneetour im Erzgebirge sein sollen, aber ohne Schnee geht das nicht. „Brandenburg ist sowieso besser zu erreichen. Ich wohne schließlich in Berlin“, rede ich mir ein. Die Skier bleiben zu Hause und ich hole die Wanderschuhe hervor. Umstände verhindern meinen Start am Samstag, aber am Sonntagnachmittag sitze ich endlich im Zug.

Deich

Dunkle Gestalten.

Küstrin-Kietz ist das Ziel, der letzte Halt vor Polen. Ich verlasse den Zug, zurre den Gurt meines Wanderkarrens fest und laufe los. Auf dem Wettermenü stehen Grabplattenhimmel und Ostwind. Ich betrete den Deich bei Kilometer 19. Mein Ziel ist km 16,4. Dort, beim Wohnwagen, soll der angelnde Kollege zu finden sein. Als ich den Wohnwagen schon gesehen habe, tauchen zwei dunkle Gestalten auf, beide mit großen Rucksäcken: Auch sie haben den Angler nicht gefunden. Lautes Pfeifen ändert nichts daran. Die beiden haben schon den halben Nachmittag über gesucht und genug Oder gesehen und Kälte gespürt und fahren lieber wieder heim.

Ich möchte weiter. Ich hatte damit gerechnet, dass unser Angler seinen Wasserfilter dabei hat, jetzt kriege ich den Wassersack von den Heimkehrern mit. Das Wetter bleibt trübe. Auf dem Deich gibt’s Aussicht und starken Seitenwind. Etwas kitzelt an meinem Ohr. Ich wusste gar nicht, dass mein Bart schon so lang ist. Auf dem Asphaltweg hinter dem Deich rollt der Wagen besser. Langsam wird’s dunkel. Die großen Überschwemmungsflächen am Reitweiner Sporn sehen trocken aus. Ich baue mein Zelt auf.

Licht im Norden.

Ich bin noch nicht lange unterwegs, aber müde. Macht die Müdigkeit mich ängstlicher? Ich sehe das trockene Stroh am Boden und mag den Benzinkocher nicht draufstellen. Also plane ich um. Ich rühre mein Müesli an mit dem Tee aus meiner Thermoskanne. Zum Nachtisch esse ich ein paar Kekse. Es ist noch früh, ich geh wieder raus und sehe schönes fahlgelbes Licht im Norden. Schattenrisse der Bäume davor.

Meine Kamera macht daraus einen dunkelroten Sonnenuntergang. Dann fällt mir ein, dass ich den Weißabgleich selber bestimmen kann. Hinterher hilft mir Google: Eine Stadt gibt es da nicht und erst recht keinen Sonnenuntergang, aber ein Erdölbohrloch bei Kietz. Das Gas wird abgefackelt.

Morgensonnenschatten.

Schlaf

Im Naturschutzgesetz Brandenburg, Paragraf 44, Absatz 4 heißt es: „Fuß-, Rad-, Reit- und Wasserwanderer dürfen abseits von Zelt- und Campingplätzen für eine Nacht Zelte aufstellen, wenn sie privatrechtlich dazu befugt sind und keine besonderen Schutzvorschriften entgegenstehen.“ Ganz geheuer ist mir das nicht.

Dass die Oder plötzlich hoch schwappt, glaub ich nicht, aber wenn jetzt der Bauer kommt, dessen Land das ist und der mich da nicht haben will? Und warum habe ich eigentlich ein rotes Zelt? Müdigkeit verstärkt die Angst, aber es verbessert auch den Schlaf. Morgens merke ich, wie es hell wird und packe alles zusammen. Während das Zelt noch steht, fährt ein Auto über den Deich, aber es fährt einfach weiter.

Radical Design Wheelie.

Die Granitklötzchen auf dem Deich zählen die Kilometer auf, aber es sind tief zweistellige Zahlen. Komisch, die Oder ist bestimmt viel länger. Hier wird nur der Deich abgemessen, finde ich später heraus. Ich laufe stromaufwärts weiter.

Für mein Frühstück gucke ich nach Osten über den Deich hinüber und sehe, wie die Sonne gerade zwischen den Bäumen aufgeht. Fotozeit mit Müesli. Bei der Diplomatentreppe grüßt mich ein Passant vom Parkplatz aus und frägt, ob er mich ‚ein Stückel mitnehmen‘ soll. Nein danke, ich laufe gerne.

Wald.

Hügel

Ich laufe ohne Karte. Mein Ziel ist Briesen. Unterwegs hängen oft Landkarten und Pläne aus. Heute zeigt mir die Sonne die Richtung. Die Grabplatten am Himmel haben sich aufgelöst. Im Westen liegen die Lebuser Oderhänge und ich wechsle vom Fluss zu den Hügeln. Bergan nutze ich die Reste eines Forstwegs. Der Wald lässt den Wagen durch. Oben angekommen gucke ich mich um. Zwischen den Bäumen öffnet sich leider keine weitschweifende Aussicht über den Oderbruch.

Ich stehe aber am Rand einiger wunderhübsch geschwungener, weiß gepuderter Felder. Der Wind hier oben ist etwas milder als auf dem Deich. Eine Weide am Weg sieht aus, als seien noch viele dunkle Blätter dran, aber die Spatzen fliegen bald auf und verziehen sich. Beim nächsten Baum wiederholt sich das Spektakel und erst drei Bäume weiter schlagen sie den großen Bogen rückwärts ein.

Spatzenflug.

Was vermeid‘ ich denn die Wege durch den Wald? Die sind zugewachsen oder machen Kurven in die falsche Richtung. Aber neben der großen Straße mit ihrem Kopfsteinpflaster lässt sich’s gut laufen. Der Wagen ist ausgewogen beladen und rollt ruhig hinter mir her. Ich nutze den Platz im Wagen aus, beim Essen hab ich mehr Auswahl dabei als sonst und für die Nacht die große, dicke Isomatte.

Im Dorf sind die Seitenwege unbefestigt. Ich unterquere die stillgelegte Bahnstrecke durch den Backsteintunnel. Die Tourenplanung ‚en détail‘ mache ich nach Windrichtung und Laune. Vor mir liegt eine große Ebene, umrahmt von Hügeln, ich halte mich links und laufe unten am Hang entlang. Auf den Feldern arbeiten die großen Traktoren wie ich sie aus dem Kinderzimmer kenne. Ich werde zu Hause die Kinder mal fragen, wieviel PS da unter der Haube stecken und wie schnell die fahren können.

Felder.

Ich lasse mich von der Sonne lenken und verlasse die Felder. Ich hätte die Meise am schattigen Hang neben der Straße gar nicht gesehen, aber sie konnte nicht stillsitzen. Hier oben ist die Landschaft nicht ganz so flach wie im Oderbruch. Früher hat man die Kopfweiden in den Holzhecken am Wegesrand bestimmt nicht so sprießen lassen.

Das Eis auf den Pfützen hält nicht immer, aber darunter sind sie trocken. Wo der Weg hohl ist, finde ich eine windgeschützte Ecke. Ich rolle meinen Zeltteppich aus und schnappe mir ein paar Kekse und einen Apfel. Die Sonne wärmt sogar ein bisschen. Dass der Weg alt ist, ist leicht zu erkennen: Er geht schnurstracks auf die nächste Dorfkirche zu.

Schnee liegt hier nicht mehr und etwas Rostrotes sticht schön hervor gegen die dunkelgrünen Ackerpflanzen. Der Fuchs bemerkt mich auch und rennt los. Einige Sekunden später legt er sich flach hin und ist wie vom Erdboden verschwunden. Ich war zu langsam mit der Kamera. Aber gesehen habe ich ihn!

Eis.

Wald

Im nächsten Dorf ärgere ich mich über einen unbeantworteten Gruß. So schwer kann das ja wohl nicht sein. Der Weg aus dem Dorf heraus hat einen panzerfesten Betonbelag. Im Wald soll es einen Bunker geben. Ein altes Bänkchen lädt mich etwas unbeholfen ein. Es ist nass, vereist und ohne Aussicht. Ich blicke noch einmal zurück zum Dorf, dabei trifft mein Blick den Wagen. Der Zeltteppich fehlt.

Ich packe einen Riegel aus und setze mich hin. Vanille ist in dieser Form nicht lecker. Die zweite Hälfte vom Riegel fliegt in den Wald. Ich ärgere mich über den verlorenen Zeltteppich, aber ich mag keine 7 Kilometer zurücklaufen und dann vielleicht gar nicht fündig werden. Ein paar Minuten weiter versperrt ein großer bewachsener Sandhaufen den gesamten Weg. Dahinter steht ein Bauzaun mit Verbotsschildern.

Am Ende die Kirche.

Nach schräg rechts hinten sticht so etwas wie ein Weg in den Wald hinein. Ich mache einen großen Bogen um das Sperrgebiet herum. Zwischen den Bäumen gibt die tief stehende Sonne genug Richtung vor. Vom Waldrand aus zieht ein grünes Feld hoch zum Abendhimmel. Die rauschende Bundesstraße und die bellenden Hunde sind weit genug weg. Ich baue mein Zelt auf und setze mich hin.

Aus den Wolken wächst eine lange, dunkle Kondensationsspur in den Himmel. Wenn ich ganz genau gucke, sehe ich auch das Flugzeug. Als die Sonne weg ist, krieche ich in mein Zelt und koche Wasser für mein Abendessen und für eine Tütensuppe in der neuen, dicken Thermoskanne. Vor dem Schlafengehen strecke ich meinen Kopf noch aus der Zelttür heraus und sehe Sterne. Ich knipse ein Paar Sternenstreifenbilder, aber bald ziehen Wolken auf. Schlafenszeit.

Hier fehlt der Zeltteppich.

Schnee

Nachts bemerke ich irgendwann, dass Schnee auf dem Zelt liegt. Noch später höre ich, wie der Regen leise tropft. Beim allerersten Licht öffne ich die Tür und sehe, dass das ganze Feld jetzt weiß ist. Der Regen hat den Schnee schon vom Zelt runtergespült. Mir soll’s recht sein. Ich mache mir immer ein bisschen Sorgen, ob nicht der Förster mit dem bissigen Hund kommt oder der Yeti oder was weiß ich wer, aber im Halbdunkeln im Schneeregen ist das sehr unwahrscheinlich.

Irgendwas war hier verboten.

Die Ausstiegstaktik passe ich dem Wetter an. Zu Hause würde ich schnell aufs Klo huschen und wieder zurück ins Bett, aber hier packe ich lieber zuerst alles zusammen, damit ich das Zelt auf einen Schlag verlassen kann. Es nieselt noch ganz leicht oder es tropft was von den Zweigen runter. Ohne Klischee kann ich darüber nicht schreiben.

Es hat eine Verwandlung stattgefunden: Gestern war alles noch kalt und trocken, jetzt hat sich eine weiße Decke über die Bäume und Wege und Felder gelegt. Nach den ersten Schritten meldet sich mein Magen. Das trübe Wetter ist weniger pausenhaft, aber ich hole meine Thermoskanne hervor. Der Löffel steckt griffbereit in meiner Hosentasche und ich genieße meine wohltemperierte Suppe.

Mit Einlage, das gilt also als Frühstück. Ich habe gestern Abend knapp lange genug auf die Karte geschaut, als dass ich die Wegmarkierung erkenne. Auch hier hat der Sturm getobt. Ich hebe den Wanderkarren über zwei dicke Bäume hinüber. Ultraleicht ist der nicht, aber normalerweise rollt er ja.

Contrail im Abendlicht.

Sonne auf dem Schnee

Aus der Ferne sehe ich schon den Mann mit Hund auf meinem Weg. Er sieht mich anscheinend auch, zündet die nächste Zigarette an, wartet, bis ich vor ihm stehe und wünscht mir freundlich ‚Guten Morgen!‘. Ein guter Rat ist einfacher als zehn Minuten auf die Karte zu starren. Die Nußallee ist hübsch.

Der Radweg, den der Mann genannt hat, ist asphaltiert und gestreut. Die Alternative durch den Wald wäre wesentlich beschwerlicher, also nehme ich die Bundesstraße in Kauf und laufe los. Es sind acht Kilometer bis Briesen. Aus den Feldern ragen hier die Windmühlen empor. Ich schalte auf den Dauerlaufmodus und komme schnell voran.

Es regnet längst nicht mehr und das Sonnenlicht wechselt sich ab mit den Wolkenschatten auf den frisch beschneiten Feldern. Ich folge jetzt Spuren im Schnee. Keine Wildtiere diesmal, sondern ein ‚Outdoor-Athlet‘, wie das bei der im Schnee deutlich erkennbaren Schuhmarke heißt.

Unerfahrener Selfiemacher.

Das letzte Stück geht leicht bergab. Ich merke, wie ich immer langsamer werde. Ich laufe trotzdem weiter. Am Bahnhof setze ich mich in der Sonne hin und esse den Rest Müesli auf. Der Zug kommt in einer halben Stunde. In der Stadt zeigt sich der Winter grau. Ich aber habe schöne neue Bilder im Kopf.

 

Frühstück.

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Mitarbeiter CAMP4
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