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Der alte Mann und der See – Winterwandern auf dem Inari

Der alte Mann und sein See...Alle Bilder: Matthias MuellerDas ist ein Bericht, wie ich ihn noch nie in den Fingern hatte. Ein Bericht, der mich zutiefst berührte und den Tränen nahe brachte. Ein Bericht, der mich in jeglicher Hinsicht beflügelte und mich  beinah zurück lies – an diesem kalten See hoch im Norden…(Anm.d.Red.)

Hallo ihr da! Ich bin hier, hier ganz oben, im hohen Norden, dort wo das Land bald aufhört! Von hier aus sieht die Welt schön aus. Ich stehe auf einem Berg, vor mir ein Fjord – ein Finger des Eismeeres, offenes Wasser gerahmt von verschneitem Fels. Hinter mir weites Land, schroff zerklüftet. Täler und Seen ruhen noch unter Schnee und Eis, aber auf glattgefegten Bergkuppen künden erste kahle Stellen vom Ende des Winters und so wird es auch Zeit für den alten Mann mit seiner Geschichte, die bald an genau diesem Ort enden wird.

Verwirrung der Gefühle

In der großen Stadt waren die Bürgersteige schon längst wieder heruntergeklappt für den Frühling, für die Schönen und für die Sonnenbrillen, als der alte Mann seine Sachen packt für seine letzte Wintertour. Obwohl etwas verunsichert vom Laissez-faire der Frühlingswegelagerer vor seiner Haustür, wankelt er mutig zum Flughafen und als er dann später in Ivalo – weit nördlich des Polarkreises – aus dem Flugzeug steigt, erfüllt ihn mit der klaren kalten Luft und dem Knirschen des Schnees unter den Füßen eine große Euphorie.

Schnell ist der alte Mann wieder mit Schnee, Eis und Ski vertraut. Mit der Ungeduld eines Schlittenhundes zieht er seinen Schlitten Flusskrümmung um Flusskrümmung, bis sich die Ufer öffnen zum großen See Inari. Erst mit untergehender Sonne schlägt er sein Zelt auf und als er später nochmal vor die Tür tritt, staunt er über Mond und Sterne und ein grünwehendes Polarlicht.

Durch einen Vorhang in eine große Dimension

Am nächsten Morgen kommt ein anderer alter Mann vorbei – ein Sami mit Motorschlitten. In einer fremden Sprache versucht dieser nach oben zeigend auf etwas hinzuweisen. Vermutlich ein Wetterbericht bedankt sich der eine alte Mann, bevor sich der andere mit heulendem Motor verabschiedet.

Tatsächlich, das Wetter ändert sich schnell und bald verschwindet auch unser alter Mann zwischen den Vorhängen leise wirbelnden Schnees. Aufkommender Wind webt einen Teppich aus fließendem Weiß und befreit erst am Ende des Tages die Sicht auf eine große Dimension. Unendlichkeit gesprenkelt mit Inseln, hinter jeder Landzunge ein neues Weit. Im späten Licht der durchbrechenden Sonne entsteht voller Demut ein neues Zeltlager.

Der Morgen des dritten Tages blendet den Blick aus dem Zelt mit strahlendem Blau. „Wetter zum Helden zeugen“ erinnert sich der alte Mann, das hatte seine Mutter früher immer gesagt. „Damals muss es wohl besonders schön gewesen sein“ schmunzelt der Held und bricht auf zum Horizont, um seine Zeugung zu rechtfertigen.

Ganz schön weit bis dahin, schnauft er zur Mittagspause und blickt auf die vom nächsten Land kündenden fernen Linien im Norden. Ein vorbeikommender Motorschlittenfinne empfiehlt zum Ansporn eine gemütliche Hütte mit Sauna auf einer Insel in etwa 20 km. Klingt verlockend, denkt der alte Mann und erobert tapfer Seemeile um Seemeile, bis sich der Tag seinem Ende neigt.

Schnee der aufs Zelt fällt

In der Sichtverschlechterung des Abends sucht der alte Mann die Hütte, doch plötzlich verspürt er eine große Lust, wieder sein Zelt aufzuschlagen. Die eigenen vier Wände, kein schnarchender Nachbar, nicht anderer Leute Witz und keine wohlmeinenden Ratschläge. Der Frieden, mit sich allein zu sein. Sehnsüchte, die man mit niemandem teilen muss. Und den Schnaps auch nicht. Welch Stille trotz Party!

Selig schläft der alte Mann ein und als er erwacht, hört er das schönste Geräusch der Welt, das zärtliche Streicheln und Flüstern wirbelnder Flocken an der Zeltbahn und das leise Zischen vom Dach rutschenden Schnees. Beseelt wendet sich der alte Mann wieder seinen Träumen zu und genießt die Geborgenheit bis weit in den nächsten Tag.

Hinterm Horizont…

Mit ungeduldigen Füßen geht es endlich weiter durch eine graukontourlose Welt tiefhängender Wolken. Doch der alte Mann hat Musik im Ohr. So überwältigen ihn auf einmal große Gefühle und er lässt es geschehen, denn keiner hört sein befreiendes Schluchzen. Plötzlich scheint das ganze Leben so greifbar, es fließt durch die Bewegung an seiner Seite.

Stationen und Begegnung, Hoffnung und Abschied, Trauer und Glück. Und jetzt beginnt er endlich zu verstehen, warum es ihn immer wieder so rastlos in den Norden zieht: Hier geht´s ja sogar hinterm Horizont noch weiter!

Über eine Grenze zu uns selbst

Inzwischen aber rücken die Ufer näher und lassen den See allmählich ausklingen. Bald bestimmt Unwegsamkeit das Gelände. Kleine und große Seen umgeben von steilen Ufern und tief verschneitem nordischem Urwald. Hier geht es selbst auf Skiern nur schwer voran. Gelegentlich verführen verwehte Motorschlittenspuren zum Verfolgen, aber nur selten ist es die richtige Richtung.

Ständig suchend wie es wohl am besten weitergeht, steht der alte Mann plötzlich verblüfft vor einem mannshohen Zaun. Das wird wohl die Grenze zu Norwegen sein. Hoffentlich nicht die nach Russland, zweifelt er kurz, als er bereits seine Gepäckstücke über den Maschendrahtzaun wirft, um dann selbst, kletternd die Europäische Union zu verlassen.

Norwegen wird seinem Ruf bald gerecht. Fjorde und Berge folgen aufeinander. Vom Meeresniveau geht es noch einmal hoch hinaus bis weit über die Baumgrenze. Es ist Ostern. Ganze Familien sind mit Schneemobilen unterwegs, campieren um kleine Feuer und angeln im Eis. Am Abend aber hat der alte Mann das Fjell wieder für sich und sieht von seinem letzten Zeltplatz bereits die Lichter der Stadt Kirkenes.

Bis zum Flughafen ist es nicht mehr weit. Obwohl ungeduldig des nahen Ziels, hält der alte Mann immer wieder inne, um an Zeit und Eindrücken festzuhalten. Doch bald hat er sein Ziel erreicht und nun stehen wir gemeinsam auf dieser letzten Höhe und werden, wie sich Land und Meer zu unseren Füßen vereinen, wieder zu einer Person. So sparen wir ein Flugticket und kehren gemeinsam, stolz und erfüllt mit großem Herzen, zu Euch zurück.


5 Responses to Der alte Mann und der See – Winterwandern auf dem Inari

  1. Janice Howe Gerta says:

    Als „alter Mann“ solle er sich nicht betiteln, so er doch eher weise als greise. Und ein starkes Herz schlägt in seinem zähen Körper. So verneige ich mich gedanklich vor ihm und respektiere das Entblößen seines Innersten.
    Deine Gerta

  2. Maik says:

    Danke „alter Mann“!
    Ein wunderbarer Bericht, vor dem ich mich nur verneigen kann und der mir eines klar macht; auch mein Herz zieht wieder in den winterlichen Norden!

  3. Hans Scholze hans says:

    du solltest Bücher schreiben!!!

  4. Heike Uta says:

    Ich bin tief berührt. Seit einer Ewigkeit versuche ich nun schon zu verstehen, was dich antreibt. Dieser kurze Bericht hinterläßt ein Ahnen …. ja, du solltest ein Buch schreiben.

    Deine Heike

  5. KV says:

    In Zeiten in denen „Man“ stetig Teil eines Ganzen ist und letzlich eine Rolle, ist „Man“ im Hohen Norden „Man selbst“. Und wenn man das so ausdrücken kann – dann sollte man ein Buch schreiben.

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