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Mut zur Lücke – 13 km unbekanntes Gewässer

Meine Tour
Lücken müssen geschlossen werden. Zahnlücken, Finanzierungslücken, Bildungslücken – alle schreien danach, beseitigt zu werden. Lücken sind hässlich, gefährlich, peinlich. Daher der natürliche Drang zum Lückenschluss. Im Süden Frankreichs, im Zentralmassive der Auvergne, in der Schlucht des Allier klafft eine Lücke von 13 km Länge. In den üblichen Flussbeschreibungen (DKV-Führer) findet sich nur der Hinweis: Zwischen Alleyras und Monistrol ist der Allier auf einer Länge von 13 km gesperrt. Begründung: keine. Kommentarlos.

Warum eine Lücke?
Es gibt Leute, die suchen nach Lücken. Ich z. B. bin ein begeisterter Lückenfüller. Flüsse können von der Natur ihrer Sache keine Lücken haben. Und doch gibt es sie, nämlich dann, wenn es um ihre Befahrung geht. Und da  beginnt der Lockruf des Unbekannten. Vorteil: Jede Flussbiegung verspricht neue Überraschungen. Nachteil: Jede Flussbiegung verspricht neue Überraschungen. Vor dem eigentlichen Schluchtabschnitt ist ein kleiner Staudamm. Ist damit der schwierige Zugang gemeint? Erklärt dies den Wassermangel flussab? Ist der Aufstau die  Fischereireserve? Wenn oberhalb und unterhalb des Schluchtabschnittes ausreichend Wasser vorhanden ist, wie soll dann in der Schlucht Wassermangel herrschen? Und Lachszucht in einem Stausee, wo gibt es denn so was?

Was Sie schon immer über Frankreichs Lücken wissen wollten…
Wegen 13 km gesperrtem Fluss nach Südfrankreich fahren, ist das nicht ziemlich bekloppt?
Moment, bevor man eine Lücke schließen kann, muss man auch seine zwei Teile haben. Den Allier oberhalb (bis Alleyras), kenne ich von einer Tour vor Jahren. Der Allier war damals noch nicht im Internet angekommen und wir mitten im jugendlichen Leichtsinn. Mit spärlichen Infos (statt Schwimmweste und Helm) ausgerüstet ging es im „Dreier“ Stil (zu Fuß vor,  zu Fuß zurück, im Boot runter) stromab. Bilanz: satte 50 km in 6 Tage.
Den Allier unterhalb (ab Monistrol), in seinen Schwierigkeiten ausreichend beschrieben und auch von  uns vorab studiert, nehmen wir uns jetzt in 2 Tagen vor. Auf 23 km erwartet uns Wildwasser bis knapp zum 4. Grad – und das bei sommerlichen 35 Grad. Das Gepäck ist im Schlauchkanadier verzurrt, Helm und Schwimmweste sitzen, einige kommerzielle Rafts zeigen die Linie. So macht Wildwasser Spaß. Vorne Vollwaschgang, hinten Schonprogramm. Eine Mischung aus Aufregung und Genuss, ähnlich einer ganz anderen Sache.
Vor der Tribüne der Felswände zelten wir auf einem Fußballfeld aus quietschgelben Ginsterbüschen, rotbraunem Grass und verstreuten Tannen. Ein Märchenwald mit allem was dazugehört: mit Wölfen (Quadfahrer), Hexen (Dornengestrüpp) und Rehkitzen (echte).
Die Schwierigkeiten nehmen am folgenden Tag weiter ab. Einige Dreierstellen und viel Zahmwasser. Wir lassen uns treiben und machen lange Pausen im wilden Mohnfeld. Die felsige Monistrolschlucht geht langsam in die offene Hügellandschaft der Auvergne über.  Mittelalterliche Feldsteinarchitektur bestimmt das Bild der Höfe, Kirchen und Brücken.
Langeac kommt schneller als erwartet. Hier beginnt die klassische Wanderstrecke des Allier. Das Flair (und die Temperatur) einer mediterranen Kleinstadt empfangen uns.

Ihr seid zuerst unterhalb des „interessanten“ Stückes gepaddelt? Das wird ja immer widersinniger.
Überhaupt nicht, am Abend geht nämlich ein Zug flussaufwärts, zurück nach Monistrol und darüber hinaus. Immer mehr oder weniger in Flussnähe….
Wir passieren Monistrol. Die Augen bis zum Haaransatz aufgerissen (das ist bei mir mittlerweile besonders weit), saugen wir jedes Detail in uns auf. Eine spektakuläre windungsreiche Schlucht! Sonst nichts. Senkrechte Felswände- und- Zahmwasser. Zumindest dort wo wir einsehen können.
Es wird dunkel. Der Allier macht einige Kilometer eine Schleife, die Bahn geht durch  Tunnel. Schwarze Ungewissheit. Wir erhaschen den nächsten Blick. Der Wasserstand ist tatsächlich so niedrig, dass eventuelle Stromstellen eher mühselig und anstrengend als gefährlich werden können. Trotzdem, Umtragen ist ausgeschlossen, ein Abbruch ebenso, soviel steht fest. Meine Phantasie erfindet trockene Wasserfälle, Unterspülungen und Siphone. Katja denkt an das Befahrungsverbot und bangt um ihr Führungszeugnis. Jeder hat da so seine Sorgen.
Die Stelle des Damms passieren wir unsichtbar im Tunnel. Kurz danach laufen wir am Bahnsteig ein.
Entscheiden! Jetzt! Der Schaffner unterstütz uns: „Alleyras!“ Bis dahin haben wir nämlich nur gelöst. Wir wuchten das Gepäck auf den Bahnsteig. Alleyras ist heute wohl nicht so gefragt. Jedenfalls steigt niemand mit uns aus.

Habt ihr versucht, mit Locals zu sprechen?
Mit einem älteren Raftguide suchen wir ein Gespräch. Und bekommen es nicht. Mit „Forbidden”, “Very dangerous” und “maximum waterlevel” würgt er uns kurzerhand ab. Nun gut, so wie er über die anderen (bekannten) Abschnitte des Allier debattiert, ist diese „Info“ nicht viel wert.
Ein anderer Guide (könnte der Sohn sein) war  da schon kommunikativer. Wir plauderen über die bekannten Abschnitte.  Vom aktuellen Wasserstand abgesehen (aus Opas „Maximum“ wurde übrigens „Medium“), interessierte uns das alles natürlich nicht. Es ist nur ein Test.  Er ergibt realistische Auskunft.
So, jetzt langsam zur Lücke überleiten. Ausgiebig über die Abschnitte unmittelbar oberhalb und unterhalb fachsimpeln. Die Frage nach dem Zwischenstück drängt sich von alleine auf.
“Unfortunately, this section is not allowed. And there is a dam” kommt er auf den Abschnitt zu sprechen.
Ich bohre weiter: “However, have you ever done it though?
Ohne Verzögerung: “Never, but I hope one final day we will be allowed to do so.”
Klar, selbst wenn er gefahren ist, kann er das so nicht sagen. Es könnte seinen Job kosten. Na gut, wir müssen ihm natürlich einen Ausweich lassen: „Anyway, what is the canyon like? Have you WALKED the section?”
“Yeah, actually, it seems not too difficult. It should be fine.” gibt er gelassen zu.
Na bitte, auch wenn insgesamt etwas der Eindruck vom “coolen Untertreiber“ bleibt, das macht doch Mut!

Nun aber, seid ihr es gefahren oder nicht?
Ehrlich gesagt, uns ging erstmal die Muffe. Unübersehbar das gelbe Warnschild. In verständlichem Französisch steht etwas von restriction, stictement, interdit … Noch deutlicher: die schlichten 6 Buchstaben in Englisch: DANGER! Und schließlich, völlig idiotensicher, wie das Verbot von Rollschuhen, Eis und Hunden im Kaufhaus, der im Kreis durchgestrichenen Kanute.
Doch  die Logik sagt: geringer Wasserstand, ein Guide der von geringen Schwierigkeiten spricht, besichtigte Passagen von der Bahn aus. Wir beschließen einzusetzen, außer Sichtweite des Dorfes zu paddeln und dort zu übernachten. Eine „schilderfreie“ Einsatzstelle ist schnell gefunden.
In der  Zeitspanne einer Teepause ist die Ausrüstung zum Wasser getragen, das Boot aufgebaut, das Gepäck hineingeworfen. Alles ohne großes Aufsehen. Mit dem Lospaddeln hat jeder für sich seinen Entschluss über den nächsten Tag gefasst  – und behält diesen auch weiter schweigend für sich.
Später im Zelt, während die Nudeln köcheln, schreiben wir unseren Entschluss jeweils auf die Innenseite der Buchdeckel. Dazwischen liegt ein Krimi. So oder so. Nach dem Schokocreme wird aufgelöst.
Katja: „Wir paddeln bis zum Ende des Stausee und sehen dort weiter.“
Sven: „Wir paddeln bis zum Ende des Stausee und sehen dort weiter.“
Jeder denkt: wahrscheinlich werden wir ohnehin vom Staumeister zurückgeschickt. Dass ich am nächsten Morgen kein Kaffee brauche, spüre ich schon am Abend. Das Herz schlägt bis zum Adamsapfel. So ist das eben beim ersten Mal.
An einer natürlichen Engstelle von der Breite einer zweispurigen Autobahn, ist die Staumauer. Hineingerammt wie der Keil in eine Toreinfahrt. Fest steht, die Stauanlage ist nur vom Wasser aus erreichbar. Von einer dienstlichen Besetzung ist jedoch keine Spur. An der Absperrung vorbei, spazieren wir über die Staumauer, und das sind doch noch 3 senkrechte Stockwerke über dem Schluchtgrund, höher als erwartet.
Katja (sagt): „Für mich sieht das unlösbar aus“ Sven (denkt): ‚Sie hat recht’, sagt dann aber doch lieber: „Wie kommst du jetzt darauf?“ Und tatsächlich, am linken Rand entdecken wir eine schmale Treppe.

Also doch! Und was erwartete euch nun dort? Hat sich die Aufregung gelohnt?
In einer Hauruckaktion wird das Boot zusammengefaltet, an der Absperrung (eine simple Hakenkette) vorbei, die Treppe runter. Boot wieder aufgepumpt und ab in die Schlucht hinein.
Aus einem Rohr vom Durchmesser eines Traktorreifens, schießen ca. zwei Kubikmeter Wasser  pro Sekunde. Für die Dimension der Schlucht ist das aber nur ein Tropfen.
Kurz vor dem Losfahren, drehe ich mich noch einmal um und entdecke das bekannte gelbe Schild mit dem durchgestrichenen Kanuten. Ich erwähne es nicht und schaue das Rinnsal vor mir an. Was soll passieren. Eine gigantische, unberührte, einsame Schlucht erwartet uns. Und am Ende, in Monistrol, erwartet uns das Auto.  Jeder findet da seine eigene Motivation.
Es sind 40 Grad Celsius hier unten. Ich schwitze wie ein Bär. Zieh mir dann aber doch erstmal den Neoprenanzug an. Und der ist auch sehr nützlich. Mehr als einmal springen wir aus dem Boot und treideln. Natürlich ist das Wasser nicht bedrohlich kalt. Verliert man den Halt ist so ein Anzug aber auch als Schutz vor Schrammen und Prellungen ganz praktisch. Trotzdem, auch mit mehr Wasser dürfte der 3. Grad nicht überschritten werden, von „DANGER“ kann keine Rede sein. Das Befahrungsverbot bleibt ein Rätsel.
Es überwiegen die Zahmwasserpassagen. In den Windungen des Flusses entstehen klasse Badepools. Ein Seitenbach bildet einen glatten, senkrechten Wasserfall. Felsformationen regen die Fantasie an und werfen tiefe Schatten. Den Kopf im Nacken gleiten wir staunend vorbei.
All das ist natürlich auch sehr fotogen. Zumindest für Digitalkameras mit ausreichend Akku. Die verbotene Schlucht behält die Bilder ihres spektakulärsten Abschnittes für sich. Gut so.
Auch ohne den Rausch des Erkundungsabenteuers: Der Abschnitt oberhalb von Monistrol ist der schönste der gesamten Allierschlucht. Ok, der Zugang ist nicht schön (Staumauer), der Wasserstand dürftig, doch die Felsformationen, die Einsamkeit sind eine Klasse für sich.
Das Wasser bleibt ruhig, die Schlucht öffnet sich, die ersten Häuser kommen in Sicht. Katja bereitet sich mit komplizierten Geschichten auf den Notfall vor.
Wir biegen im Ort um die Ecke und am Ufer empfangen uns tatsächlich drei Personen in Grün. So ein Mist.
Das hat natürlich gar nichts zu sagen, in Frankreich trägt die Gendarmerie nämlich Blau. Führungszeugnis gerettet.


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