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Tuzgle – Pachamamas Boulderparadies

sliderDas hier ist die Geschichte von dem vielleicht höchsten Bouldermekka der Welt. Von dem subtilen Dialog zwischen den Kulturen und der Vereinbarung von Tradition und Moderne. Von der mit Sicherheit niedlichsten Jugendgruppe unseres Planetensystems. Und von dem vielleicht selbstlosesten Bergsportverein überhaupt, der eigentlich gar keiner ist.

Hohes Niveau und dünne Luft

Salta, Argentinien – Es ist mein Geburtstag und ich sitze im Bus. Der Bus fährt mich in vier Stunden von Salta in das Andenstädtchen San Antonio de los Cobres (S.A.C.) auf fast 3800 m auf die Puna. Meiner argentinischen Freundin Cami hat es viele Tränen gekostet, das ich ausgerechnet an meinem Geburtstag weg fahre. Mir irgendwie auch. Aber es geht hier um etwas viel größeres, etwas viel Nachhaltigeres, sage ich mir.

In S.A.C. holt mich Jaime mit seinem Pick-up und seiner Familie ab. Eigentlich sollte ich bei ihnen übernachten. Aber dann hat eine Mutter von einem der Kinder aus seiner Klettergruppe, die ein Hotel besitzt, gesagt, dass sie noch ein Zimmer frei hat und ich dort schlafen kann. So läuft das eben auf dem „Dorf“, denke ich mir. Jeder kennt jeden, jeder hilft jedem.

Trotzdem ist die erste Nacht ein Kampf. Latente Kopfschmerzen, Müdigkeit, Antriebslosigkeit. Es ist und bleibt dasselbe. Und das obwohl ich schon etliche Male auf 4000 m war. Viel getrunken, leicht gegessen und mich wenig angestrengt habe. Man muss das über sich ergehen lassen wie eine Erkältung.

Bei mir dauern die Symptome auf 4000 m genau zwei Nächte und ein Tag. Ganz anders als bei meiner Freundin Cami, die einfach so an einem Tag auf einen 5500 m hohen Vulkan läuft ohne mit der Wimper zu zucken, wohingegen ich auf dem Gipfel mit blauen Lippen und blauen Fingern und den Kopfschmerzen meines Lebens stehe.

Am nächsten Tag holt mich wieder Jaime ab, zusammen mit seinem eifrigsten und erfahrensten Schüler Tiko. Wir holen das Material aus der Sporthalle (Kletterausrüstung, Zelte, Kocher, etc.) und dann geht’s entlang der spektakulären Ruta 40 unter dem legendären Viaducto la Polvorilla, dem Eifelturm der Anden, in die Schlucht(en) des Vulkanes Tuzgle.

Mondlandschaft? Nein eher Marslandschaft!

Ich kenne diesen Ort ziemlich gut. Ich würde sogar sagen, dass ich einer der Ausländer bin, der diesen Ort am besten kennt. Bereits vor meinem Auslandsjahr habe ich das Video von den „verrückten Franzosen“ um Nina Caprez im Netz gefunden, die sich beim Highballen und Sportklettern gefilmt haben.

Dann war ich mit der Uni aus Salta im Rahmen eines Vulkankurses dort – ich studiere Geologie – und weiß jetzt alles über die Entstehung dieses mystischen Ortes. Und dann war ich zu Weihnachten mit meiner Freundin da, um auf den besagten 5500 m hohen Tuzgle zu laufen und der Bergschule „Escuela de Montaña Lito Sánchez“ bei ihrer Ausfahrt mit den Kids zu unterstützen.

Unter den Kletterern in Argentinien werden die drei Schluchten nur „Juguetería“ genannt, Spielwarengeschäft. Und das trifft es ziemlich gut, beschreibt es doch die ziegmillionen
Möglichkeiten von Bergsteigen über Bouldern und Highballen bis hin zu Sportklettern und Tradklettern.

Hm, werden sich jetzt einige denken. Wenn dieser Ort so weltklasse ist, warum finde ich dann nichts darüber im Netz? Noch nicht mal in Spanisch? Das liegt schlicht und einfach daran, dass dieser Ort am Ende der Welt liegt. Das ist insofern lustig, dass viele Menschen durchaus Argentinien mit dem Ende der Welt assoziieren, allerdings in der Regel mit dem Kap Horn, Feuerland oder Ushuaia.

Vielleicht sollte man daher den Tuzgle eher als Anfang vom Mars beschreiben. Die Nasa hatte nämlich 2006 die Kraterseen von Vulkanen in dieser Region auf Leben untersucht – als Analogon zu Lebensbedingungen auf dem Mars (dünne Atmosphäre, äußerst starke UV-Strahlung und extreme Temperaturschwankungen).

Und dann kommt noch die Abgelegenheit hinzu. Wer nicht gerade mit einer Rakete einschwebt muss stundenlang durch die endlose Weite der Puna fahren, vorbei an Salzseen, Lamas und Nandus. Das ist übrigens auch der Grund, warum man in der Regel nur über eine Schlucht am Tuzgle hört, obwohl es eigentlich drei sind. Denn durch die erste führte eine Straße, die berühmte Ruta 40. Durch die zweite und dritte dagegen nicht mal ein Wanderweg.

Auch wir bleiben aus logistischen Gründen in der Hauptschlucht und bauen unser Lager am markanten Ying-Yang Block auf, jenen 15 m hohen Klotz, den die Temperaturschwankungen einmal quer durch in zwei Teile gesprengt haben. Genau wie den Rest der 7 km langen und 30 m hohen Felswände auf beiden Seiten.

Eine schier unendliche Spielwiese für Trad- und Rissspezialisten. Den berühmten Cracks in den USA stehen sie in nichts nach, bis auf die Tatsache, dass sie auf 4200 m Höhe liegen.

Als Pachamama ein Boulderparadies erschuf

Vielleicht an dieser Stelle etwas zur Genese: Das knallrote Gestein, aus dem viele Kletterspots in den Anden bestehen, nennt sich Ignimbrit. Ignimbrit ist kein Sandstein, auch wenn das immer alle denken bei den Rissen und roten Wänden. Es ist ein explosives Vulkangestein, das unter den Trivialnamen Tuff fällt. In Europa gibt es dieses Gestein so nicht, da Europa nicht an einer Subduktionzone liegt. Denn Ignimbrit entsteht bei einem pyroklastischem Strom durch einen Vulkanausbruch wenn sich Asche und Gas zusammen ihren Weg ins Tal bahnen.

Durch die Gaseinschlüsse ist Ignimbrit sehr leicht und eigentlich auch sehr brüchig und zerbröselt sofort in der Hand. An manchen Stellen war allerdings der pyroklastische Strom reich an Volatile, die bei der Erstarrung aufgestiegen sind und die oberen 20 – 30 m zementiert haben.

Deshalb sind die festen Bereiche rot (vom Eisen, dass in den Porenräumen ausgefällt ist) und grau, dort wo alles super bröselig geblieben ist. Die Kombination aus einer harten, verwitterungsbeständigen Oberschicht und einer weichen Unterschicht hat dazu geführt, dass die Flusssysteme die Felsen unterspült haben und entweder steile bis überhängende Wände haben stehen lassen oder gigantische Blöcke abgebrochen und ins Tal gekullert sind.

Im Übrigen haben die marsähnlichen Umweltbedingungen mehr Vorteile als Nachteile. Zum einem sind wir am Rande der Atacama-Wüste. Das heißt es regnet fast nie. Und falls doch (Regenzeit von Dezember bis März), dann trocknen die Felsen aufgrund des geringen Dampfdrucks blitzschnell, genau wie die nasse Wäsche. Auch den Schweiß merkt man kaum. Eigentlich braucht man Chalk daher nur für Tickmarks und um sich irgendwie den fettigen Film von der Sonnencrem abzuwischen. Nicht zuletzt, überleben bis auf nervige kleine Kakteen am Boden (aufpassen mit den Isomatten) keine Moose auf den Felsen.

Darum kann man eine jungfräuliche Tour nach der nächsten Klettern ohne ein einziges Mal putzen zu müssen. Und nicht zuletzt die unablässlichen, unfassbar starken Winde, die fast pausenlos über die Puna blasen. Diese fräsen aus den Blöcken überaus interessante, raumgreifende Formen, sodass sich ein bunter Mix aus Löchern, Dellen, Waben und Leisten ergibt.

Kletterboom in den Anden

Zurück zu und Tiko und mir. Der Grund warum ich hier bin ist das erste „Festibloques“, das erste Boulderfestival im Nordwesten Argentiniens. Solche Treffs im Bouldern oder Klettern sind in Südamerika in den letzten 5 Jahren wie Pilze, oder besser gesagt Kakteen, aus dem Boden geschossen. Einfach um solch unzugängliche Orte bekannt und zugänglich zu machen.

Das Konzept ist, dass die Locals, die die Felsen bei sich um die Ecke haben, sich um die Logistik kümmern. Also die Anreise von der nächsten Stadt, die Wasser- und Essensversorgung, die Klettermarkierungen und Topos und ein bisschen Unterhaltung. So braucht man eigentlich nur seinen persönlichen Kletterkram, ein Schlafsack und ein Zelt mitbringen und wird von den Einheimischen eingeführt. Ein wirklich großartiges und sehr geselliges Konzept!

Das Besondere am Tuzgle ist, dass es (noch) keine erfahrenden Einheimischen gibt, die das Potenzial auch nur annährend ausreizen könnten. Lediglich die Bergschule „Escuela de Montaña Lito Sánchez“ von Jaime in S.A.C. zu der ich jetzt auch mal ein paar Worte verlieren muss.

Dieses Projekt verdient meine absolute Hochachtung. Seit 2012 treffen sich jeden Samstag 30 bis 40 Kinder zwischen 5 und 19 Jahren in der städtischen Turnhalle um dort an einer 7 m hohen und 6 m breiten Kletterwand zu trainieren. Und fünf- bis sechsmal pro Jahr gibt es eine Ausfahrt zum Klettern oder Bergsteigen.

Dazu stellt die Stadt der Bergschule kostenlos einen LKW mit Fahrer zur Verfügung. Unten kommen die Matten rein, damit man weich sitzt und auf der einen Seite die Ausrüstung und das Essen und auf der anderen Seite die über 40 Kinder.

Überflüssig zu erwähnen, dass die Bergschule natürlich kein eingetragener Verein ist, das keine Unterschrift von den Eltern notwendig ist und das es keine Versicherung für irgendetwas gibt. Die Eltern bringen die Kinder zu Jaime weil sie ihm Vertrauen. Einfach so.

In solchen Situationen denke ich mir, wie schön es doch wäre, wenn auch ich als Jugendleiter einfach so etwas anbieten könnte ohne die ganzen Einwilligungserklärungen und Unterschriften.

Und als ob es nicht schon genug wäre die eigenen 40 Kinder zu betreuen, sucht Jaime auch ständig den Dialog mit den angrenzenden Bauern. Eigentlich ist das ganze Gebiet sogar Privatbesitz von nur einer einzigen Dame die ganz allein mit ihrer Enkelin Carmen von ihren Lamas lebt. Jaime hält deshalb jedes Mal bei der alten Dame um sich für die Erlaubnis Klettern zu dürfen zu bedanken. Wir konnten die Frau sogar diesmal dazu überreden ihre 17-jährige Enkelin für das Boulderfestival freizustellen. Und es hat ihr riesen Spaß gemacht, mit all den anderen Kindern.

Und nun hat mir Jaime erst kürzlich geschrieben, dass er für Carmen ein komplettes Stipendium bekommen hat, damit diese ihre Schule beenden kann, welche sie nach der 5. Klasse abgebrochen hatte. Echt krass, denn die Oma ist offenbar auch einverstanden!

Ferner gibt es 6 km nördlich der Schlucht das winzige Dorf Puesto Sey. Das Dorf hat wahrscheinlich kaum 100 Einwohner, aber eine Grundschule, eine Bushaltestelle und seit kurzer Zeit auch Internet.

Jedenfalls pflegt Jaime auch mit den Leuten dort engste Kontakte, redet und erklärt, dass das ganze absolut ohne Profit läuft. Als ich das erste Mal zu Weihnachten die Bergschule begleitet habe, haben wir mit den Kindern aus S.A.C. in den Schlafräumen der Grundschule übernachtet, wegen angesagter Gewitter. Als Dankeschön gab’s Panettone und gespendete Kleidung.

Und Jaime kann diesen Dialog zwischen den Kulturen besser als ich oder jeder Weiße es jemals können wird, weil er von der indigenen Bevölkerung als einer von „ihnen“ akzeptiert wird.

Ein Gringo als Kletterberater

Nun, auf der anderen Seite hat Jaime sich mein Know-how mit ins Boot geholt, weil ihm das gigantische Boulderpotenzial durchaus bekannt war, er und seine Schützlinge darin aber überhaupt keine Erfahrung haben.

Für mich war das eine unfassbar große Ehre. Wir haben uns erstmalig beim Bouldercup in Salta kennen gelernt, den ich geschraubt hatte. Denn spätestens nachdem ich den zweiten Durchgang der nordwestargentinischen Bouldermeisterschaften gewonnen hatte, war überall bekannt, dass es zurzeit einen mächtig starken Deutschen in der Provinz gibt.

Naja, jedenfalls hat sich durch die Anfrage von Jaime ein richtiger Lebenstraum erfüllt. Denn ich hatte immer den Wunsch Klettern möge nicht nur mein eigennütziger Zeitvertreib sein, sondern auch was für die Gesellschaft bringen. Dafür bin ich Jugendleiter, habe an verschiedenen Einbohraktionen in Schwellenländern teilgenommen, um den Tourismus zu fördern und zudem ein FSJ in Westafrika gemacht. Aber irgendwie fand ich die ganzen Projekte immer ziemlich aufgesetzt und missionarisch und daher wenig nachhaltig.

Dass mich aber jemand Einheimisches bittet ihn zu unterstützen, ohne Geld, ohne Vertrag, ohne irgendwas, war eine ganz andere Nummer. Meine Aufgabe war es also den Kindern bouldern beizubringen, Boulder zu markieren und einen Topo zu erstellen. Dafür stand mir Tiko als wissbegieriger Lehrling mit Rat und Tat zu Seite.

Mit Tiko und unseren zwei Matratzen… ja genau, noch so eine Sache. Da natürlich niemand Crashpads besitzt, haben einfach alle die hatten alte Bettmatratzen von sich zu Hause mitgebracht. So läuft das eben auf dem „Dorf“. Jeder kennt jeden, jeder hilft jedem.

80 auf einen Streich

Jedenfalls laufen Tiko und ich am Freitagmittag in die erstbeste Zone mit Blöcken. Bei so vielen Kilometern gibt’s natürlich reichlich Auswahl. Ein paar Blöcke erkenne ich aus Nina Caprez Video wieder. Und doch darf man annehmen, dass 99,99 % der Blöcke noch nie von einem Menschen berührt wurden.

Unsere Idee ist deshalb einen Parkour mit unterschiedlichen Farben für unterschiedliche Schwierigkeitsgerade zu markieren. Wie zum Beispiel im Ursprungsort des Boulderns in Fontainebleau. Damit sich von überall aus der Welt Leute hier zu Recht finden und austoben können.

Dazu habe ich 5 Spraydosen gekauft und aus Pappe kleine Pfeilschablonen geschnitten. Wie gesagt, Quittungen oder so brauchte ich natürlich nicht sammeln. Gibt ja auch kein Verein an den man irgendwelche Mitgliedsbeiträge zahlt, die dann ganz genau verrechnet werden. Hier zählt nur Leidenschaft und Gutmenschlichkeit. Und natürlich hat Jaime vorher die Oma, auf dessen Grundstück die Felsen stehen, gefragt, ob wir diese markieren dürfen.

So ziehen Tiko und ich von Block zu Block und sprühen kleine Pfeile von blau für einfach, über grün, gelb, rot bis zu schwarz für super mega schwer. Die Farben des Regenbogens, so unsere Idee, die kriegt selbst ein kleines Kind zusammen. Insgesamt markieren wir in jenen drei Tagen über 80 Boulder. Die meisten davon ganz, ganz leicht, denn die Kinder sollen ja Spaß haben.

Am Samstagmorgen rückt die Meute dann an. Gerade rechtzeitig, sodass Tiko und ich noch das Plumpsklo fertig stellen konnten, denn selbstverständlich soll dieser einzigartige Ort so unberührt wie möglich bleiben.

Neben der super gut gelaunten Rasselbande sind auch einige Erwachsene aus anderen Städten und Provinzen dabei. Insgesamt sind wir mehr als 60 Leute. Ganz so wie wir uns das gewünscht hatten. Selbst ein paar Eltern sind dabei und ein Papa hat T-Shirts für alle drucken lassen.

Die Eltern kochen für alle mit dem Essen, dass die Kinder mitbekommen haben. Jaime fährt bestimmt zwanzigmal Transit zwischen Puesto Sey, den Blöcken, dem Camping oder der Oma. Um die Matratzen, Wasser oder Kinder zu kutschieren.

Tikos und mein Plan geht voll auf. Die Kinder ziehen in Grüppchen mit ihren Matratzen durch die Spielwiese. Carmen, die sonst ganz allein mit ihrer Oma wohnt, wird super aufgenommen von den anderen. Alle sind beschäftigt. Alle kommen irgendwo hoch. Keiner verletzt sich. Alle sind glücklich! Absolut perfekt!

Mir bleibt nur hinzuzufügen, dass ich meine Freundin gleich am Montag mit einer Rose in der Uni überrascht habe. Sie war auch schon längst nicht mehr traurig, sondern stolz auf ihr Kletterbärchen. Und wir sind auch immernoch zusammen!

 


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