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Die Überwindung der Erdkrümmung – Bodden-Paddeln im Herbst

Land in Sicht! Am weiten Horizont zu erkennen: wasserfarben dahin getupfte Flecken, sich spiegelnd zwischen Himmel und Meer. Wir steuern darauf zu. Ganz allmählich verbinden sich Tupfer mit zarten Linien.

Aus dem Wasser wachsen die Konturen eines Archipels aus flachen Inseln mit einzelnen Baumgruppen.

Wir kommen uns vor wie alte Seefahrer und Entdecker. Nach ungewissen Monaten ausgezehrt, endlich Land in Sicht… Was ich verschwiegen habe: Rechts von uns ist greifbar das Ufer und unter uns können wir mit dem Paddel den Grund loten. Das ist das Besondere der Boddenlandschaft: Unendlicher Horizont in mindestens einer Richtung, rettende Schilfhalme greifbar nah und meist nur ein paar Handbreit Wasser unterm Kiel. Und tatsächlich, obwohl auf einer Weltkarte kaum zu erkennen, kann man auf den Bodden schon nachvollziehen, dass die Erde offenbar rund ist.

Wir starten nach Westwindvorhersage im Ortsteil Damgarten von Ribnitz. Hier geht der Bodden los. Ganz schöne Brühe im Ribnitzer Bodden! Wenn da nicht heimlich ´was eingeleitet wird! Aber rechts um die Ecke beginnt der Atlantik, auch Saaler Bodden genannt. Das Phänomen beginnt. Wasser, so weit das Auge reicht, Richtung Osten. Links ganz flach das Fischland mit der markanten Wustrower Kirche. Dahinter löst sich die Küstenlinie des Darßes in der Ferne allmählich auf. Der Wind lässt nach, das Wasser glättet sich im blassblauen Spätsommerdunst. In einer solchen Stimmung muss jemand den Impressionismus erfunden haben.

Das waren bestimmt nicht die Seefahrer von einst, wenn sie verzweifelt unter schlaffen Segeln, sich ungewiss der zeitlichen Willkür ausgesetzt sahen. Und mein Vater war es wohl auch nicht. Ich erinnere mich: Etwa zehnjährig stehe ich am Steuer unseres mahagoniglänzenden Motorbotes, welches mitten auf dem Bodden hilflos dahindümpelt. Der Außenbordmotor Namens Forelle will mal wieder nicht. Beunruhigende Stille. Nur das gepresste Stöhnen meines Vaters, der mit zu tief gerutschter Dreiecksbadehose – blau, weißumrändert – vergeblich am Anlasser reißt, bis uns irgendwann ein altes Fischerboot in den nächsten Hafen schleppt. Ich hatte mir damals einen stolzeren Kapitän gewünscht, aber der bin ich ja inzwischen selbst und so steuere ich unser Schiff mit erhobenem Haupt an unseren ersten einsamen Übernachtungsplatz. Wir vermuten, den letzten warmen Abend zu erleben, und genießen ein mildes Brackwasserbad vor tief stehender Sonne.

Der frische Westwind am nächsten Morgen treibt uns mit tieffliegenden Schauerwolken durch die Neuendorfer Bülten – einer flachen Schilfinselgruppe als erstes Verbindungsglied der Darß-Zingster Boddenkette. Wir passieren Born zur Linken und hangeln uns bei zunehmendem Wind ufernah am Koppelstrom entlang, bis sich hinterm Nadelhaken das nächste weite Wasser – der Bodstedter Bodden – ausbreitet. Zu windig für „gerade rüber“, ermahne ich mich und so halten wir westwindgeschützt unter Land auf den Wasserwanderrastplatz Wieck zu. Schön hier, Zeltwiese, Dusche und Küche am Hafen und ab und zu mal Urlauber, die uns bewundern – genau das, was wir brauchen.

Reingewaschen durch kräftige Schauer zeigt sich der Himmel am dritten Tag in einem kontrastreichen Wolken-Sonne-Mix. Der Westwind zeigt uns noch immer, wo ´s lang geht und lässt uns auf steilen Boddenwellen ein paar Mal kurz die Luft anhalten, bevor wir durch die Meiningen-Brücke aufatmend in das enge Zingster Fahrwasser einmünden.
Vorschriftsmäßig umrunden wir die naturgeschützte Große Kirr und Oie nördlich und bekommen dafür, mit Blick über die flachen Vogelschutzinseln, im Zingster Hafen ein teures Fischbrötchen.

Jetzt wird’s spannend. Jedenfalls für mich. Ab jetzt beginnt der Bodden sein maritimes Antlitz zu verraten. Die Ahnung des Meeres wird spürbar. Das Wasser schmeckt salziger, die ersten Quallen zeigen sich unter uns, der Horizont nach Osten wird durchlässiger. Um nicht in weitem Umweg nach Süden paddeln zu müssen, kreuzen wir waghalsig das kabbelige Fahrwasser des Barther Boddens, bis uns eine weitere Landzunge Schutz vor dem frischen Westwind bietet. Beeindruckend: die plötzliche Ruhe nach dem rauschenden Tanz auf schaumgekrönten Wellen. Friedliches Wasser vor Schilf, weiße Schwäne im Nachmittagsblau. Richtung Osten eine neue, noch größere Weite. „Der Grabow“, so heißt dieser Bodden. Den heben wir uns für morgen auf, beschließen wir und gleiten demütig vor der neuen Dimension am stillen Ufer nach Süden bis zum Wasserwanderrastplatz im einsamen Häfchen Dabitz.

„Himmel und Erde“ heißt die kulinarische und passende Krönung des Tages. Äpfel und Kartoffeln in der Pfanne mit ausgelassenem Speck serviert. Die ersten Sterne beginnen zu funkeln. Ferne Leuchtfeuer werfen kommunizierend ihren Schein. Eins der rhythmisch pulsierenden Lichter am Nachthimmel ist das des Leuchtturms am Dornbusch von Hiddensee. Von der Insel ist am nächsten Morgen noch lange nichts zu sehen. Aber wieder überwinden wir winzigen Wasserläufer ein Stückchen Erdkrümmung und gegen Mittag taucht die Ahnung des Eilands am Horizont auf und wächst mit jedem Paddelschlag allmählich zur markanten Inselkontur.

Ein großer Tag! Klares Blau, frisches Kühl, weite Sicht und ein paar mitteilungsbedürftige Wolken. Wir passieren B52 – eine rote Fahrwassertonne. Hier wird das Wasser wieder schmaler. An backbord (links, Mensch!) der letzte Zipfel der Halbinsel Zingst, sich fortsetzend mit den flachen Vogelschutzinseln Kleiner und Großer Werder und Bock. Und genau mittendurch erkennbar, in blauer Ostseeferne: Hiddensee. Erfüllt landen wir an, im alten Lotsenhafen Barhöft. Auch hier gibt es für stolze Paddler hinter den Kaimauern ein hübsches Fleckchen zum Zelten. Kaum vorstellbar, aber die nächsten Tage sollen grau und stürmisch werden, sagt der Hafenmeister. So arrangieren wir uns mit anderen Yachties, gehen duschen, einkaufen und spazieren. Von einem dort ehemals beobachtenden Turm der Nationalen Volksarmee hat man eine weite Aussicht auf die Ostsee-Bodden-Insellandschaft bis Rügen und Stralsund.

Nach zwei faulen Tagen geht’s mit Gegenwind endlich weiter nach Stralsund. Die Silhouette der Stadt hat mit gigantischer Werfthalle und hochgeschwungener Rügenbrücke leider etwas von ihrer Caspar-David-Friedrich-Romantik verloren. Trotzdem sind wir fasziniert von den Aussichten über den Strelasund, auf die Stadt vor uns, zur Insel Rügen an backbord und nach hinten verliert sich das Land in weitem Blau bis zum offenen Meer. Am Steg des Stralsunder Kanuclubs machen wir fest und fragen nach einer Übernachtungsmöglichkeit. Wir sind überrascht von der Offenheit und Hilfsbereitschaft, mit der man uns hier begegnet. Keine Spur von Misstrauen, keine Fragen nach Mitgliedschaft oder Personalien, sondern unkompliziertes freundliches Willkommen. „Wollt ihr ein Bett oder schlaft ihr im Zelt?“ und mit rührender Geste „Morgen um neun gibt’s Kaffee“. Den genießen wir tatsächlich am nächsten Tag, gemeinsam klönend in lockerer Runde und sehen dem quirligen Treiben des dort stattfindenden Schulsport-Ruderns zu. Wir sind von all dem beeindruckt: Statt Vereinsmeierei zweckmäßig organisierte Freizeit und Sport in offen großzügiger Atmosphäre!

Wir verlassen Stralsund mit einer Hafenrundfahrt unter niedrigen und hohen Brücken und vorbei an den beiden neuen Dänemarkfähren „Berlin“ und „Copenhagen“, die in der Volkswerft gerade den letzten Schliff bekommen. Eine Weile noch weht uns der Wind den Lärm der Hafenstadt hinterher, bis wir hinter den Halbinseln Drigge und Devin wieder ganz unter uns sind. Allmählich weitet sich der Strelasund zum Greifswalder-, dem größten aller Bodden. Hier lauern die singenden Sirenen und locken auf das gefährlich große Wasser. Mit geschmolzenem Wachs in den Ohren, entzieht sich Odysseus – selbst an den Mast gebunden –  der Betörung und segelt zwischen Skylla und Charybdis sicher am Rand lang zum Campingplatz Stahlbrode. Genug gesponnen! ermahne ich mich am nächsten Morgen, als wir zwischen Riems und Koos – so heißen die Inseln wirklich – in die Dänische Wieck gelangen. Noch eine letzte Abschiedsnacht an schilfigem Strand vor großem Wasser. Dann verlassen wir traurig das Erdenrund und paddeln die letzten Kilometer auf dem Ryck flussaufwärts bis Greifswald.


2 Responses to Die Überwindung der Erdkrümmung – Bodden-Paddeln im Herbst

  1. Micha Micha says:

    Es ist immer wieder schön, deine Berichte zu lesen.
    Danke.

  2. Tobias says:

    Toll geschrieben! Und Klasse-Fotos! Und hach ja – in den Bülten lagen wir auch mal ein paar Tage mit der „Lucie“ fest – Sturm. Bis wir uns dann nach Neuendorf gerettet haben. Da wollten uns dann die Fischer an´s Leder: angeblich hat mein Vater ihre Reusen gekreuzt beim Reinkommen. Das muß 86 oder 87 gewesen sein..

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