Sind wir bald da??? Quengeln die Kinder meist von der Rückbank. Als ich das von hinten frage, liegen vor uns noch etwa zweitausend Straßenkilometer bis Lappland und ich provoziere schmunzelndes Kopfschütteln.

Wir sind drei Kollegen:

Joh: Stratege mit GPS, Berserker am Berg, uns immer ein paar Schneewehen voraus.
Micha: Moderator der Zeltmitte, immer auf der Suche nach Nahrung, erdmännchenaufrecht, sobald irgendwo eine Tüte knistert.
Und ich…?: Mich Überfünfzigjährigen wird man bald „Der Gebrechliche“ nennen.

Der Soundtrack zum Nordpol

Aber zunächst hatte ich als Kulturverantwortlicher fünftausend Kilometer Musik für unsere Nordlandreise zusammengestellt, natürlich nach meinem Geschmack schön introvertiert. Nach Passieren des Polarkreises soll nur minimalistische Musik gehört werden.

Kurz vorm Ziel noch eine improvisierte Rastplatzübernachtung im Kraftfahrzeug. Schnell das letzte Bier, bevor es gefriert, dann schachteln wir uns in unseren Schlafsäcken eng um Lenkrad und Bremse und hoffen nicht Pinkeln zu müssen. Draußen sind minus zwanzig Grad, bald auch drinnen.

Die letzten Kilometer auf vereisten Pisten gleichen Russisch-Roulette: Die schmalen Straßen gehören den mit wehenden Schneefahnen dahin donnernden Nordlandtrucks. Wir spikeslos Driftenden können im stiebenden Schnee nur hoffen, die Mitte zwischen Gegenverkehr und Schneewallrand zu treffen.

„Geschafft“ bekreuzigen sich drei blasse Berliner in Jokkmokk, lassen das Auto stehen und warten auf den Bus nach Quickjokk. Hier endet die Straße und der öffentliche Verkehr entlässt uns in schwindendes Licht vor leichtem Schneefall.

Jetzt sind die jungen Hunde nicht mehr zu halten. Mit der Nase nach Norden geht´s los, sobald sie auf den Skiern stehen. Ich eile hinterher. Das Laufen befreit vom Anreisestress und Bewegungsmangel. Im Schein der Kopflampen glitzerndes Schneekristall. Bald schon stellt sich das lang ersehnte Wintertourengefühl ein.

Mit leichtgleitendem Gruß in den Sarek

Wir sind auf dem nördlichen Kungsleden unterwegs. Dieser schlängelt sich hier durch verwunschene nordische Wälder und lässt am nächsten Tag im Westen erste Blicke auf die majestätischen Bergmassive des Sarek-Nationalparkes frei. Der Sarek gilt als die letzte große Wildnis Europas und hat eine einzigartige Dichte an schroffen Bergen, Gletschern, einsamen Tälern und bietet im Gegensatz zu anderen Nationalparks weder touristische Infrastruktur mit Wegbezeichnungen und Hütten, noch Sicherheit durch Mobilfunknetz. Genau da wollen wir durch!

Aber noch sind wir Skiwandernden drei Tage auf dem Königspfad unterwegs und begegnen hier außer ein paar einheimischen Motorschlitten, nur einer Gruppe schneeschuhgedemütigter Österreicher. Sie scheinen auf der Stelle zu treten und versuchen unseren leichtgleitenden Gruß mit tapsender Fassung zu erwidern.

Wir benutzen den Haupteingang zum Park – das Rapadalen. Bekannt durch unzählige Wandkalenderfotos ist das weitmäandernde Flusstal mit dem markanten Eckpfosten „Skierfe“, im Sommer nur am Rand zu betreten. Unser Freund, der Winter, lässt uns aber auch hier wieder freie Bahn über die sonst unzugänglichen Wasser- und Sumpfgebiete.

Da taucht auch schon die nächste Sehenswürdigkeit auf: Der Nammatj! Ein Hut, vergessen im Tal der Täler, in der Landschaft der Riesen! Wir gehen mal schnell drum herum und brauchen zwei Tage dafür.

Ein Hut in der Landschaft der Riesen.

Ein Hut in der Landschaft der Riesen.

Jetzt sind wir außerhalb der Kalenderbilder und schon wird es ernst: Das weite Tal verengt sich und wir zwängen uns zwischen Felswänden und bedrohlich verschlingendem Flusswasser hindurch. Die Schlitten folgen nicht immer unserer Spur und müssen einige Male aus prekärer Schräglage geborgen werden.

Erleichterung als das Tal sich wieder zu einem großen See weitet. Dieser schmettert uns allerdings ein ordentliches Schneegestöber entgegen, die Sicht wird knapp, das Licht bedrohlich. Wir bauen das Zelt auf, bevor es zu stürmisch wird.

 

Kleine Freakshow

Bald Geborgenheit und Behaglichkeit im Inneren. Ich habe Küchendienst. Im Schein von Kerzen, Kopf- und Gaslampe umgebe ich mich auf schneegezimmerter Küchenzeile mit vertrautem Utensil. Töpfe, Tassen, Thermosflaschen und der schneeschmelzende lebenserhaltende Kocher. Gleich ein heißes Süppchen als Vorspeise.

Und da passiert es. Als ich  gerade Schnee vom Küchenfußboden kratze, um den Wasserkessel aufzufüllen, trifft mich plötzlich ein stechend lähmender Schmerz. Ich beiße mir auf die Lippen und fluche. Ein Hexenschuss auf Wintertour, fast ein Worstcase-Szenario. Ich versuche Haltung zu bewahren und verharre in dieser. Die Stiefel an meinen Füßen scheinen unerreichbar. Wer zieht sie mir aus? Und morgens wieder an? „Ich will zu meiner Mutti“, jammere ich innerlich, versuche aber männlich zu stöhnen.

Die lieben Kollegen – nun zur Altenpflege verdammt – bemühen sich meine Würde zu bewahren und stellen mich am nächsten Morgen mit leichtem Schubs wieder auf die Skier. Es muss komisch ausgesehen haben – ein Stock geht am Stock – aber wir sind ja mitten im Winter im Sarek – kein Publikum für meine Freakshow und so versuche ich meinen Betreuern lippenbeißend und steifen Schrittes zu folgen.

Allmählich wird die Landschaft alpiner, wir zelten vor schroffen Wänden und lassen die Baumgrenze hinter uns. So etwa muss es auf Spitzbergen aussehen. Das Wetter ist mit uns, klar, kalt und schön. Ich hole das erste Mal seit meinem Menschengedenken die ganz dicken Fäustlinge aus der Reserve und versuche die erhabene Schönheit der abweisenden Landschaft zu genießen. Hey Schneekönigin, wo ist Dein Eispalast, hier kommt Kai! Aber wo eigentlich ist Gerda?

Möglicherweise habe ich da was verwechselt, aber hier, an der Grenze zwischen Irdischem und Universum entsteht bald eine wohltuende Distanz zur lächerlichen Realität. Wir genießen die seelische Anarchie in diesem Raum und lassen uns treiben. Der Weg ist das Ziel! Allerdings sind Joh und Micha schon wieder ziemlich weit vorn.

In ihrer Müsliriegelpause überhole ich die beiden mit kalter Schulter, denn jetzt geht es wieder abwärts. Ich passiere mit dem Bollwerk des Niak die letzte schroffe Felswand des Sarek im Nordwesten. Langweilig wird es auch jetzt nicht. Aus einer ebenen Ferne erhebt sich bereits majestätisch das teils wolkenverschleierte Ahkka-Massiv. Meine Verfolger sind mir bereits dicht auf den Fersen, da sage ich einfach: „Lasst uns hier zelten“!

In mildem Abendlicht, an den gewaltigen Flanken des Ahkkas und mit weitem Blick auf den gleichnamigen See findet bald die Siegerehrung des Tages statt und ich gebe eine Runde Absinth aus.

Frozen nose and burning sky

Rastlos ziehen wir weiter nach Norden. Zunächst über das schier endlose Weit des Sees Akkjaure. In Ritsem stolpern wir über verstreute Zivilisation. Hier endet auch eine Buslinie, aber wir sind noch lange nicht am Ende! Bald tauchen vor uns die nächsten gewaltigen Riesen auf und ziehen uns in ihren Bann.

Am Sälka biegen wir rechts ab und gelangen, atemberaubt ob der großartigen Blicke auf Kebnekaise und Co., vor dramatischem Licht in das weite Tal des Kungsleden. Diesmal entscheiden wir schnell. Keine Kraft mehr für langes Armdrücken, wo und in welcher Richtung das Zelt stehen soll, wohin der Eingang und wo parkt wessen Pulk? Die vielen Höhenmeter spüren wir in den Knochen und die permanente Kälte zehrt an uns.

Der nächste Tag steigert nochmals die Intensität: Klar, kalt und stürmisch. Geeisstrahlter Hintern bei der Morgentoilette. Der Zeltabbau – ein Ringkampf mit Boxhandschuhen. Und das Laufen – ein taumelndes Auflehnen gegen die Elemente. Der Wind kommt von vorn und die Kälte dringt diesmal beunruhigend durch alle sonst bewährten Schichten. Oh, denke ich, schönwetterverwöhnter Wintertourendandy, und mache mir Sorgen um meinen vorderen Hintern.

Da hält plötzlich ein motorisierter Sami und ruft durch sein Helmvisier, „Your nose is whitefrozen, you have to protect your face.“ und stiebt kopfschüttelnd wieder davon. Erschrocken fasse ich mir diesmal an die eigene Nase und versuche mein exponiertes Oberkörperteil unter dem Schaltuch zu verbergen.

Als die Windmaschine endlich abgeschaltet wird, funkeln die ersten Sterne unserer letzten Zeltnacht. Wir feiern mit flambierten Desserts, bis uns fast das Zelt abbrennt. Irgendwann ruft jemand „Polarlicht“, beim Pinkeln. Auch das noch! Ich bleibe im Zelt. Zu K.O. für langes Ah und Oh, aber jetzt bin ich froh, über Deine tollen Fotos, Joh.

Die letzten 20 Kilometer nach Nikkaluokta sind ein Osterspaziergang bei schönstem Wetter. Ich hatte die Männer wegen der urgemütlichen Hüttenanlage hierher gelockt. Aber zunächst genießen wir die Sauna danach. Per Bus, Bahn und Bus erreichen wir am nächsten Tag das prompt anspringende Auto und fahren mal schnell nach Berlin zurück.

Die Großstadt empfängt uns diesmal mit wintermüden Lenden, nachtleer und eisgekühlt, umrändert von schmutzigem Schnee. Wir schleichen uns ein, in warme Höhlen und Wannen. Später geht der Gebrechliche in den schwachen Morgen. Ein leiser Hauch von Frühling. Im Stoffbeutel am Rollator zwei leere Bierflaschen.

Mit dabei waren:

Joh: Berserker am Berg!

Joh: Berserker am Berg!

Micha: Immer auf der Suche nach Nahrung.

Micha: Immer auf der Suche nach Nahrung.

Und: Der Gebrechliche... mit gefrorener Nase.

Und: Der Gebrechliche… mit gefrorener Nase.