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Chefsache Lappland – einmal um den Kebnekaise

„Nimmst Du mich mal mit“, fragt meistens der kleine Bruder den größeren. Mit gleicher Unschuld traf mich die gleiche Frage – allerdings vom großen Chef. Ich hatte ihm gerade meine langjährige Begeisterung für Wintertouren im hohen Norden in einem Text für unseren Camplog vorgelegt. Das war im Dezember.

Inzwischen ist Sommer. Ich sehe aus dem Fenster meiner Berliner Wohnung. Ein leichter Regen hat den städtischen Asphalt abgekühlt. Unter Platanen flanieren Paare und Vergnügungssuchende. Heute hat mich der  Chef gefragt, ob ich einen Bericht über unsere gemeinsame  Wintertour im vergangenen  März schreiben würde. So versuche ich mich aus der Verklärung des weichen Sommerdunstes  zu befreien und wende mich  der kristallenen Erhabenheit des nordischen Winters zu.

Zeit zum Auftauen

Wir hatten uns am Flughafen verabredet. Eine leichte Nervosität war auch der Abfertigungsangestellten im Angesicht unseres sperrigen Gepäcks anzumerken. Entspannung beim Bier in einer Flughafenbar beim Aufenthalt in Stockholm. Einiger Vorbereitungsaufwand lag hinter uns. Haben wir nichts vergessen? Sind die Daheim-gebliebenen instruiert? Nach der zweiten Runde Bier an Flughafenbar in Stockholm legte sich die Nervosität.

Eigentlich hatte ich vor, mal wieder allein unterwegs zu sein, mich ganz kopf- und seelenfrei dahintreiben zu lassen, und hatte mir mit der Überquerung des Inarisees eine weniger spektakuläre Landschaft ausgesucht. Das wäre natürlich nichts für einen alten Himalaya-Bergsteiger wie den Chef, und als wir uns dann sozusagen am Kebnekaise – Schwedens höchstem Berg – verabredet hatten, war ich froh, denn da wollte ich auch schon immer mal hin.
Gespannt verfolge ich aus dem Fenster des Fliegers die Route nach Norden entlang der Ostsee, die allmählich zufriert. Vor der Landung einsame weite Winterlandschaft. Wir sind offenbar richtig. Der Flughafen Kiruna hat den Charakter eines Busbahnhofes. Ein bestellter Taxifahrer hält ein Schild mit meinem Namen. Wir fahren zunächst in die nüchterne Bergbaustadt, um Brennstoff für Kocher und Laterne zu kaufen. Dann geht´s in rasanter Fahrt spikesbereift auf eisig schneewehender Piste knapp 70 km nach Westen, bis in Nikkaluokta die Straße endet. Ein teures Vergnügen. Gut, dass der Chef dabei ist.

Die kleine Siedlung Nikkaluokta ist einer der Ausgangspunkte für Wanderungen auf dem nördlichen Kungsleden und ins Kebnekaisegebiet und hat sich mit der von einer Sami-Familie geführten Hüttenanlage stilvoll darauf eingestellt. Wir mieten eine liebevoll eingerichtete „Charmig Stuga“ und sind dabei, unsere Ausrüstung – noch im Fluggepäckformat – in tourenpraktische Funktionseinheiten aufzuteilen, als uns ein norwegischer Hüttennachbar türklopfend auf den inzwischen von Polarlicht- und Huskygeheul-durchwobenen Sternenhimmel aufmerksam macht.

Glitzernder Morgengruß

Der erste Morgen, welch ein Tag! Strahlendes Blau, Winterstille. Wir beginnen die Tour mit einigen lustigen Pirouetten im Schnee für ein schließlich misslungenes Selbstauslöser-Startfoto. Was soll´s, jetzt geht’s endlich los. Nach diesem Moment sehne ich mich immer ein ganzes Jahr lang. Wir laufen nach Westen durch ein weites Tal. Wie zu erwarten ist hier einiger Verkehr. Schließlich befinden wir uns auf dem Zubringer zur „A9 der Wintertourengeher“, dem nördlichen Kungsleden. Uns begegnen drei Hundegespanne, zwei Schneescooter und eine Gruppe Franzosen auf Skiern am ganzen Tag. Nach 6 km die erste Raststätte. Wir parken die Pulks vor „LapDånalds“.  Leider werden die berühmten Renburger nur im Sommer angeboten und so reichen wir uns vor der winterschlafenden Kote mit leichter Überwindung Müsliriegel aus eigenem Proviant. Kurz vor der Kebnekaise-Fjällstation lässt uns ein plötzlich sichtverschlingendes Schneegestöber nicht lange zögern: Genug für heute. Wir finden zwischen schneeumfegten Hügeln und gebeugten Birken einen ebenen Platz zum Zelten. „Schaffst Du das allein?“ “Klar!“ rufe ich in den Wind, während sich der Chef mit der Kamera entfernt, um die tosende Stimmung einzufangen. Etwas nervös wühle ich kniend im Schnee, um die Heringe für unser sich wild gebärdendes 4-Mann-Expeditionszelt einzugraben, als es passierte: Wie ein aufgeschrecktes Schneehuhn, nur rot, flog plötzlich der Packsack des Zeltes davon. Uneinholbar, in Zeltleinen verstrickt konnte ich dem exotischen Vogel nur  nachblicken, bis er im Grau des  Schneetreibens verschwand. Wie peinlich, gelte ich doch als der Zeltfreak und bin berüchtigt ob meines peniblen Zeltaufbaus. Mit gesenktem Haupt beende ich mein Bauwerk als der schnelle Chef plötzlich auftaucht und – tatsächlich – da flattert doch etwas Rotes in seiner Hand.

Nächster Tag, neues Glück! Sonne flutet durchs Zelt, Windstille, unglaublich. Das Kebnekaise-Massiv baut sich majestätisch vor uns auf und seine steilen Felswände weisen uns den Weg nach Südwesten. Anders als am Vortag geht es jetzt spürbar bergan. Ein Blick zurück in das aus dieser Perspektive fast lieblich erscheinende Tal, in dem sich unter der Schneedecke zwischen dünnem Birkenbestand windende Wasserläufe und Seen ahnen lassen. Vor uns eisige Mondlandschaft flankiert von abweisendem Fels. Es geht weiter aufwärts. Als wir endlich den Pass erreicht haben, bin ich in Angesicht des keuchenden Chefs froh, dass es jetzt nur noch bergab geht. Abends im Zelt reiche ich dem schüttelfrierend Angeschlagenen, Wärmflasche und Schnaps. Offenbar das beste Mittel gegen eingeschleppte Zivilisations- und Chefbüroviren, denn bald schon unterhalten wir uns angeregt über klassische Musik und unsere sehr unterschiedliche Sozialisation in den Nischen der DDR.

Stürmische Zeiten

Ich liege noch im Schlafsack, als uns ein vorbeieilender Kungsleden-kommunikationsbedürftiger vor dem Wetterbericht warnt: Starkwind ab 14Uhr! „Naja, dann woll´n wir doch mal“, schäle ich mich aus den Daunen und plustere mich auf zum Kräftemessen. Tatsächlich beginnt es kurz nach zwei ordentlich zu wehen. Die Landschaft verwandelt sich in einen fliegenden Teppich mit Fransen, lichtgetränkt und schattiert in einem bizarren Muster aus Sonne und Wolken. Im Windschutz der Kuoperjokka- Schutzhütte genießen wir während der Mittagspause fasziniert dieses Schauspiel. Und wieder überlassen wir uns dem Rausch der Elemente auf einsamen Bahnen. Es fällt nicht schwer, denn der  Wind weht uns inzwischen nach Norden, da wo wir hin wollen.
So leer ist die A9 selten. Nur  Rentiere, denen das Wetter auch gefällt, wagen sich bis an die Leitplanken.
In der Trance des Dahindriftens  bin ich, als Vorangehender, fast erschrocken, als ich plötzlich vor der Sälka-Hütte stehe, und stünden nicht gerade die sympathischen Wirte Ulla und Kurt vor der Tür und offerieren knisterndes Hüttenofenfeuer und noch mehr Windvorhersage, ich wäre wohl weiter gezogen. Schnell bin ich mir mit dem Chef einig und wir richten uns ein, hacken Holz für Ofen und Sauna, holen Wasser aus nahem Eisloch und scherzen mit zwei belgischen Mitbewohnerinnen über das übertriebene Sicherheitsbedürfnis der Winterwanderer. Der Chef resümiert gerade „no risk, no fun“ als Ulla plötzlich mit der erschütternden Nachricht hereinkam, ein Flugzeug sei am Kebnekaise abgestürzt.
Ja, wir haben richtig verstanden, „an aircraft crash this afternoon on Kebnekaise“!
Dessen westliche Flanken haben wir doch soeben ganz schwerelos umrundet und  nur ein paar Kilometer entfernt hat sich eine Tragödie abgespielt. Wäre es doch ein falscher Film!
Eine norwegische Militärmaschine mit fünf Besatzungsmitgliedern, zum Manöver unterwegs, keine Überlebenden, wie wir später erfahren.
Die stürmische Nacht lässt die Hütte ächzen und beben und auch der nächste Morgen ermuntert nicht zum Weiterlaufen. Eigentlich sollte der Berg Sälka (1865m), zu dessen Füßen wir gerade klein beigeben, unser Berg werden. Eine Besteigung bei gutem Wetter soll eine grandiose Aussicht auf die große schwedische Gipfelkette mit Kebnekaise und nach Westen bis zum Atlantik bieten. Am Nachmittag unternehmen wir im Schneetreiben einen vorsichtigen Versuch, in seine Ausläufer einzusteigen, als uns eine donnernde Lawine zu unseren Füßen klarstellt: diesmal nicht. Bekehrt kehren wir um. Den zweiten Hüttenabend teilen wir uns mit der inzwischen per Motorschlitten eingeflogenen lüsternen Boulevardpresse aus Stockholm.
Am nächsten Morgen die Ruhe nach dem Sturm. Wir sind erleichtert, als wir den Spuk hinter uns lassend, die ersten Spuren durch das unschuldig sonnige Glitzern ziehen.

Dieser Tag steht ganz im Zeichen des Tjäktjapasses – dem Höhepunkt des Kungsleden – dessen Linie sich in der Ferne bereits abzeichnet. Wir streben dahin mit fließender Energie. Ein dahin tapsendes Schneeschuhpärchen beneidet uns, um unsere gleitende Fortbewegung auf Skiern. Später, als es steiler wird, gerät das Gleiten allerdings etwas ins Stocken. Euphorisiert durch immer grandiosere Rückblicke in das weite Trogtal, kämpfen sich zwei winzige Ameisen mit Gepäckschlitten immer weiter hinauf zum Badewannenrand. Unglaublich, was diese kleinen Tierchen so schaffen!

Rollenverteilung im Zelt

Die nächsten Tage sind gezeichnet von gelassener Selbstverständlichkeit. Angenehme Routine hat sich eingestellt. Das tägliche Prozedere des Lagerns funktioniert reibungslos Hand in Hand. Taktvoll hält sich der Chef zurück, wenn ich mit dem Ehrgeiz des Friseurs um das Zelt schreite, um alle Abspannleinen perfekt zu justieren. Dann folgt die Inneneinrichtung mit Teppich, Sessel und Couchtisch. Für Licht und Wärme sorgen Gaslampe und Kerzenstumpen. Mein Part ist das abendliche Menü. Ich reiche aus der Küche dampfende Suppe, heißen Tee mit Schuss, dann das Hauptgericht. Später, zwischen uns die Schale mit Chips und zwei kleine Gläschen.
Nach den langen Abenden an der Bar bin ich froh, dass ich am Morgen erst vom Duft richtigen Kochkaffees geweckt werde. Wunderbar! Frühstück im Bett. Nachdem ich den Kopfteil meiner Isomatte hochgeklappt habe, werden mir Müsli an Pulvermilch und sonntags Rührei mit Speck serviert. Wir haben unseren Rhythmus gefunden. Schnell ist alles eingepackt und während ich noch augenreibend eine zweite Tasse genieße, bricht der frühe Chef – längst schon wieder in Form des drahtigen Bergbezwingers – bereits auf. Wir gönnen uns diesen Abstand bei gutem Wetter. Jeder kann so unbeschwert sein eigenes Tempo finden, fühlt sich nicht getrieben oder gebremst.
Etwa eine Tagesetappe vor Abisko haben wir den Kungsleden verlassen. Wir folgen den vereinzelt blassroten Kreuzen als Wegmarkierung nach Osten. Hier sind offenbar selten Menschen unterwegs. Aber es gibt viele Tierspuren. Ein fliehender Vielfraß verrät seinen Kühlschrank. Im Schnee hat er sein erlegtes Ren vergraben. Ein weißes Hermelin als Mitesser leckt dort auch sein blutiges Schnäuzchen. Später eine Elchfamilie, Spuren vom Luchs und über allem der segelnde  Seeadler. Die nordische Wildnis jenseits ausgetretener Pfade.

Wir erkämpfen uns einen weiteren Höhepunkt. In exponierter Lage stellen wir unser rotes  Zelt vor grandioser Bergkulisse in das zarte Lila des klaren Winterabends. Wir wollen gar nicht reingehen, als die ersten Sterne zu funkeln beginnen. Aber gleich ist Küchenschluss und ich unterbreche die Stille mit dem Fauchen des Kochers. Diesmal gibt’s kein Dessert, aber dafür Lichtshow kostenlos. Man kann das Polarlicht kaum mit Worten beschreiben. Bei den Sami galt es als Aktivität der Geister von Verstorbenen und mir kommt es tatsächlich so vor, als seien die wehenden Himmelsgardinen ein Medium in eine andere Dimension. Schade nur, dass die Füße irgendwann kalt werden und auch der Kopf droht vom Hin- und Her-Staunen bald aus seinem Gelenk zu fallen.
Die letzten  Etappen vergehen wieder mit nomadischer Routine, ohne dass wir versäumen, die sehr abwechslungsreiche Landschaft mit allen Sinnen aufzunehmen. Am letzten Pass allerdings versagen meine Sinne komplett. White out. Keine Kontouren, Himmel und weiße Landschaft werden eins. Geht es hoch oder runter? Nur die Skispitzen zeigen wo vorn ist. Plötzlich scheint es immer steiler bergab zu gehen – verkrampft in Schneepflugstellung stemme ich mich gegen das Nichts – aber es wird immer schneller – gleich falle ich…! Da muss ich feststellen, ich stehe ja auf der Stelle.
Die letzte Nacht im Windkanalzelttest. Wir hoffen in dieser Aussichtslage auf einen Abschiedsblick auf die umrundeten Berge, die sich aber düster verschleiern. Windgebeutelt taumeln wir etwas traurig die letzten Kilometer durchs Vistastal nach Nikkaluokta.

Der Abspann der Films zeigt:

Stolze Männer in der Sauna, Kirchenbesuch in Kiruna, Einkauf beim Rentierschlachter und Flughafenbier. Dann in Berlin 23°Grad mit langer Unterhose. Zartes Grün und nackte Mädchenbeine erblickend, bei der Fahrt durch die frühlingspralle Großstadt. Zuhause angekommen ist der Klumpen Rentierfleisch im Schlafsack noch immer gefroren. Das nächste Mal bringe ich einen Schneemann mit.

…Lust zu mehr? dann lies „Nehmt den Zeltteppich mit…“ auch von unserem Bestsellerautor Matthias


8 Responses to Chefsache Lappland – einmal um den Kebnekaise

  1. Micha Micha says:

    Traumhaft! Ich will dort auch hin.
    Wann wird es passieren?

  2. Tobias says:

    Toller Text&tolle Bilder! Chapeau!

  3. Thys says:

    Lieber Matthias (und Andreas),
    es weckt schon die alten Erinnerungen an die schönen Wintertouren. 1993 im Februar war diese meine erste und hat mich infiziert ! Die wunderschönen Bilder von Euch lassen die Erinnerungen wieder aufleben. Das Bild “
    Traumhafter Morgen nach durchstürmter Nacht“ habe ich genau so in Erinnerung…Ich will zurück nach W…äh zur Kebnekaise Fjell Station.
    Viele Grüße vom ‚alten‘ Kollegen

  4. pia says:

    noch so ein schöner Artikel :-).. Danke 😉 wo gibts mehr?

  5. hallo matthias,
    vor zwei stunden habe ich auf fotocommunity einige bilder hochgeladen und getextet. schon bekam ich aus schweden eine antwort mit dem bezug zum 15.3. vor zwei jahren, dann sei das flugzeug/kebnekaise…..
    schon google ich diesen unfall und komme zu deinem super-blog. so gut geschrieben! gratuliere und bedanke mich.
    gruss andreas

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