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Sorry, I don´t speak czech! Oder: von der Flexibilität des Seins

Teddybaerchen auf Tour. Alle Bilder: Engin DeveciManches will gut überlegt und gut geplant sein. Ansonsten kann es passieren, dass man sich in Situationen wiederfindet, die sehr ungemütlich sind, wenn nicht gar gefährlich. Was treibt uns dazu, uns in schwierige Situationen wie große Hitze, Kälte oder gefährliche Höhen zu begeben? Diese Fragen hat sich CAMP4 Mitarbeiter Engin gestellt und sich auf die Suche nach Antworten begeben. Und das nicht irgendwo, sondern auf dem legendären Fernwanderweg Kungsleden im schwedischen Lappland. Eine Wintertour in drei Teilen: Kapitel I

weiter zum Kungsleden Teil 2

weiter zum Kungeleden Teil 3

Ist es Wagemut, der uns dazu befähigt Schwieriges zu meistern und Neues zu erreichen? Oder ist es einfach nur Leichtsinn oder naiver Optimismus, also eine Beschränkung des gesunden rationalen Menschenverstandes? Vielleicht entscheidet darüber der Grad der Planung, der unseren Handlungen vorausgeht. Seit Stunden kreisen mir diese und ähnliche Gedanken immer wieder durch den Kopf. Meine Zehen schmerzen, meine Finger auch. Ich atme sehr kontrolliert. Die Gefühlslage ist ambivalent. Vor einer Woche hätte ich mir nicht einmal erträumt hier zu sein, wie auch? Wie sind wir nur hier gelandet?

Hals über Kopf

Es schreibt das Jahr 2015, Winter in Berlin. Sonderlich kalt oder winterlich ist es zwar nicht, dennoch ungemütlich und dunkel. Kein Wunder, es ist der 30. Dezember. Hier und da hört man schon die sinnfreien Böller knallen. Das einzige was wir sicher wissen ist, dass wir in sieben Tagen Urlaub haben. Wir wollen verreisen. Was wir nicht wissen ist, wohin uns unsere Reise führen soll. Wir haben noch nichts gebucht und geplant. Wann denn auch? Hinter uns liegt der Weihnachtsrummel mit seinem Trara, vor uns der Silvestertrubel der Stadt.

Ein Kumpel aus Oslo hat sich bei uns eingenistet. Einige Arbeitstage stehen auch noch an. Es bleibt einfach kein Freiraum für Planungen und Entscheidungen. Meine Freundin macht es sich leicht in dem sie mir die Entscheidungsgewalt großzügig auferlegt; na super.

Wir überschlagen unsere Gedanken und es bleiben noch zwei mögliche Reiseziele und Reiseaktivitäten, die einer finalen Entscheidung bedürfen, übrig: Klettern im milden Klima der griechischen Insel Kalymnos. Dieses Ziel ist einfach zu erreichen, es lockt mit einer relativ einfachen Anreise, Kletterspaß, Bequemlichkeit, leckerem Essen, günstigen Preisen und wenig Planungsaufwand. Das Wetter dort: ca. acht Stunden Tageslicht, Sonnenschein, milde 13° Celsius.

Die Alternative ist eine Tour auf dem Kungsleden durch den Schnee, in der „ewigen Polarnacht“ Nordschwedens, 195 km nördlich des Polarkreises. Das Wetter dort: -29°Celsius, leichter Wind, ungefähr eine Stunde Sonnenschein, dafür aber vielleicht Polarlichter. Seit unserem fünfmonatigen Aufenthalt im Bluebird Mountain Hostel im Zillertal über den Winter 2012/13 ist unsere Ski-Ausrüstung nur noch eingestaubt. Eine Ski-Tour mit Zelt und allem drum und dran,… dieses Ziel lockt nur mit seinem abenteuerlichen Reiz. Kulinarisch hat es nur Trockenfutter, Müsli, Trockenfleisch, Trockenobst und eben einfach nichts frisches – mit Ausnahme der eisig kalten Luft die nicht satt macht- zu bieten. Der Planungsaufwand ist enorm, die Anreise relativ teuer und aufwändig.

Für so eine Tour benötigt man die richtige Ausrüstung wie warme Schlafsäcke, wintertauglicher Kocher, Zelt, warme Outdoorbekleidung, und und und. Genau genommen haben wir fast nichts. Ich schreibe eine knappe Rundmail an meine ArbeitskollegInnen im Camp4 und schildere unser Problem. „Liebe Kollegen! Christine und Ich könnten evtl. spontan auf Wintertour… Uns fehlen, das, das, das und das… Wer könnte uns was – ohne Bauchschmerzen! – leihen??“

Es dauert nicht lange. Wie ein alarmierter Ameisenhaufen drängen sich Zuspruch, Nachfragen, Interesse und vor allem Emails an mich heran. Antworten wie:“ Habe alles, könnt alles haben!“ oder „Bringe morgen dicke Daunenjacke und Schlafsack mit.“ Oder „habe dies und das und jenes Zelt, welches wollt ihr haben?“, „Braucht ihr noch was?“ folgen einander in dichter Frequenz und zaubern mir größtes Erstaunen ins Gesicht. Die Reaktionen auf die Email sind umwerfend. Soviel Interesse und Anteilnahme habe ich eigentlich noch nie erlebt.

Einige Tage nach meiner Email, einer Silvesternacht und darauf folgendem Neujahrstag, sich daran anschließenden stundenlangen Gesprächen mit den alt erfahrenen Wintertourern unseres Ladens, unendlich vielen wertvollen Tipps und  guten Ratschlägen, haben wir nicht nur einen Großteil unserer Ausrüstung zusammengestellt, sondern mittlerweile auch die Flüge von Berlin nach Stockholm und weiter nach Kiruna gebucht.

Es gibt scheinbar kein zurück mehr. Ach, das wird bestimmt super, denkt sich da der Optimist. Am 06.01.2016 um 08.20 Uhr geht der Flieger ab Tegel. Bis dahin finde ich keine Ruhe mehr, die Liste an zu erledigenden Punkten nimmt und nimmt kein Ende. Ein Fehler in der Planung könnte verheerende Folgen nach sich ziehen. Ich mag die Nasenspitze meiner Freundin, abfrieren darf einfach nicht passieren! Ach, das wird bestimmt alles super. Die Temperatur-Anzeigen und -Prognosen für unser Reiseziel unterbieten sich von Tag zu Tag. Am Abend vor unserer Abreise stellen wir uns schon auf -35° Celsius ein. Wir packen bis spät in die Nacht. Wir haben viel zu viel Gepäck.

Kapitel II: Minusgrade und Schnee – rien ne va plus – nichts geht mehr

Am Vorabend der Abreise schneit es in dicken Flocken in Berlin. Der reibungslose Betrieb der öffentlichen Verkehrsmittel Berlins ist unter solchen Bedingungen erfahrungsgemäß stark gefährdet und stockt und erlahmt doch gern. Da die Pulka so irre schwer ist und wir schon um 06.20 Uhr am Flughafen sein wollen, bestellen wir also ein Taxi zu 05.30 Uhr. Pünktlich gelangen wir so zum Flughafen.

Bei der Gepäckaufgabe sehen wir zum ersten Mal,  dass unsere Gepäckstücke zusammen mehr als 60 kg wiegen. Das Handgepäck ist da noch nicht eingerechnet. Für unser extra Gepäck müssen wir allein für die Beförderung nach Stockholm 115€ extra zahlen. Unter den winterlichen Wetterbedingungen scheint der Betrieb am Flughafen in Tegel ebenfalls zu kollabieren. Stark Verspätet fliegen wir nach Stockholm, wo wir unseren Anschlussflug verpassen.

Offenbar hat der Flughafenbetrieb in Schweden deutlich weniger Probleme mit größeren Minusgraden und Schnee. Auch das Personal ist deutlich hilfsbereiter. Wir bekommen einen Anschlussflug drei Stunden später zugesagt, außerdem erlassen uns die älteren  Herren am Schalter die Kosten fürs extra Gepäck mit einem Lächeln und den Worten: „I scratch your back, you´ll scratch mine!“. Schweden, ich bin begeistert.

Wir landen in tiefster Nacht gegen 16.30 Uhr am Flughafen Kiruna. Das Thermometer zeigt -32° Celsius an. Der Shuttle-Bus fährt uns in die Stadt. Wir benötigen dringend Benzin und Gas für Kocher und Laterne. Es ist der 06.01.2016 – wie dumm! – denn 13 Tage nach Heiligabend haben viele kleine Geschäfte in Schweden geschlossen. Wir ziehen unseren Schlitten bis zur Pizzeria und bestellen erstmal eine Pizza mit Rentierfleisch und Birne. Als wir die Pizzeria eineinhalb Stunden später wieder verlassen, sind wir zwar satt, allerdings haben sich unsere Reisepläne schlagartig verändert.

Zum Einen war es weiter abgekühlt. Nikkaluokta, der geplante Ausgangspunkt unserer Tour, war bereits jenseits der -40° Celsius. Kiruna knackte unter -39° Celsius. Bei solchen Temperaturen geraten auch die öffentlichen Verkehrsmittel in diesen Breiten ins Stocken. Wir saßen fest. Nichts fuhr mehr nirgendwohin. Ein Taxi für 150€ wäre die einzige Möglichkeit gewesen. Aber eine Nacht fernab von Menschen, im Zelt, bei Temperaturen bei denen Plastik einfach bricht, schien auch mir einfach keine gute Idee mehr zu sein. Wir zogen also unseren Schlitten durch die Straßen Kirunas, die Nase brannte, die Finger und Zehen ebenso. Der Campingplatz war geschlossen, also wir nisteten uns finanziell erleichtert in einem Hostel ein. Am nächsten Tag kämen wir sicher nach Abisko, da fährt ja noch der Zug.

Am Tag darauf war es noch kälter. Der Zug nach Abisko war eingefroren. Es war wie verhext. Wir waren schon bereit mit dem Taxi für ungefähr 220 Euro zu fahren, als wir durch Zufall von einem Sammelbus erfuhren, der bereits für einen Haufen anderer in Kiruna gestrandeter Nordlichttouristen für einen Transfer nach Abisko organisiert worden war. Weitere 85 Euro ärmer erreichten wir endlich gegen 15.15 Uhr, inmitten der Nacht die Touristation in Abisko und es war immer noch kalt. Wir waren endlich am Kungsleden angekommen. Was nun?

 


6 Responses to Sorry, I don´t speak czech! Oder: von der Flexibilität des Seins

  1. Mutti says:

    … um diese Nasenspitze wäre es wirklich schade gewesen!

  2. chrichri says:

    schöner Anfang, bin gespannt auf den nächsten Teil !

  3. Hans Scholze Hans says:

    freue mich schon auf den zweiten Teil, habe schon die warmen Handschuhe übergezogen, kann losgehen;-)

  4. Thomas Mahnke says:

    Hallo,

    ich habe eben eure Geschichte gelesen und bin begeistert.
    Die gleiche Strecke habe ich im Oktober bei 2 Grad und Regen in entgegengesetzter Richtung bewältigt und denke schon lange darüber nach diese im Winter zu meistern.
    Dank euch habe ich noch mehr Lust bekommen.

    Vielen Dank für eure tolle Inspiration. 😀
    Thomas

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