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Bevor der erste Regen fällt: Zu Besuch bei 1,28 Mrd. Menschen – Indien Teil 1

Hallo, ich bin Engin. Alle Bilder: Phillipp-Engin DeviciWas geht mir durch den Kopf, wenn ich an Indien denke? Riesige Riesenschlangen, schwerfällige Elefanten mit kleinen Ohren, der indische Ozean, Hitze, Malaria und Dengue-Fieber, eine Milliarde Menschen, das System der Kasten, bunte Kleidung, Mahatma Ghandi, weltklasse Programmierer, kreischende Affen,…

…bunte Gewürze in großen Säcken, Fakire, Slums und Slumdog Millionaire, gefährliche Tiger und andere Raubkatzen, giftige Kobras, Mowgli und das Dschungelbuch, Schmutz, Armut, fieser Durchfall, die Simpsons, der Regenwald, Monsun, Berge, uralte Tempel, Yoga. Diese bunte Mischung aus Cliché, Romaninhalt und Realität füllt mein durchschnittsdeutsches Gedächtnis vor Reiseantritt.

Das Kopfkino war perfekt
Freunde, Bekannte und Kollegen, die  von unserer Reise durch Indien erfahren, bekunden und bekräftigen oft ihr Desinteresse an der Reise. Aber wieso eigentlich, frage ich mich. Die Qualität der hygienischen Bedingungen seien nie sicher. Dengue- und Malaria-Fieber, Hitze, sämtliche vorstellbare Brech- und Durchfall- und viele andere schlimme Erkrankungen drohen Tag und Nacht, sagen sie.

Überall wimmele und wusele es von Menschen, die einen bedrängen und so weiter und so fort. Sicher ist: es ist nicht alles immer nur paradisisch oder angenehm bequem oder in schönem Sinne traumhaft. Vieles ist in erster Linie ´anders´, aber das ist doch nicht nur in Indien so!

Die Neugierde nach diesem „Anders“ ist der Grund, weshalb wir uns Indien als Reiseziel ausgesucht haben. Dieses Mal suchen wir nach kultureller Reibung. Also reisen wir mal nicht von unserer Wohlstandsblase Deutschland in eine ähnliche, nur an einem anderen Ort gelegene Blase, sondern ganz woanders hin. Neben Erhohlung suchen wir Irritation und Gedankenfutter. Und, was soll ich sagen: Wir haben bekommen, wonach wir suchten.

Vorbereitungen – eigentlich ganz einfach
So eine Fernreise ist kein Problem, denke ich mir. Du steigst wie immer in ein Flugzeug ein, dann fliegst du eine Zeitlang, steigst wieder aus und bist da. Ganz einfach. So einfach ist es dann doch nicht. Kurz vor knapp, nach einigen verkaufsfördernden Informationstiraden beim Tropenarzt mit darauffolgenden Impfungen und Besorgungen in der Apotheke, fällt uns erst ein, dass man nicht nur einen gültigen Reisepass, sondern sogar ein Visum benötigt. Eigentlich klar, wenn man erst einmal darüber nachdenkt.

Der Blick in meinen Reisepass bewirkt erste Enspannung, denn dieser verliert erst vier Wochen nach dem Urlaub seine Gültigkeit. Ein Visum kann kurzfristig im Internet gebucht werden und kostet etwa 50 Euro pro Antragsversuch. Ob dieser erfolgreich ist oder nicht, wird vermutlich über einen von indischen Eliteprogrammierern entworfenen Zufallsgenerator entschieden.

Wer nicht wagt, der nicht gewinnt! Die einzelnen Felder des Formulars, welches zur Beantragung des Visums ausgefüllt werden müssen, sind in ihren Anforderungen nicht immer eindeutig. Mein Visum kostet mich 50 Euro. Das Visum meiner Reisebegleitung dagegen kostet 150 Euro. Dieses wird nämlich erst beim dritten Versuch gewährt.

Wer telefoniert mit wem?
Die Kostenspirale dreht sich weiter, extra 20 Euro entstehen bei einem Telefonat mit einem Verständigen der Botschaft in Indien.. Der Verständige selbst versteht nichts. Die wortreichen Ausführungen des Verständigen versteht man nicht. Meine Phantasie erwacht und ich stelle mir ein Szenario vor, das eine mögliche Erklärung der gerade stattfindenden Situation darstellt:

Ich male mir aus, wie ich Opfer eines Verbindungsfehlers von Telefonaten geworden bin. Meine Telefonleitung ist in eine andere Verbindung gerutscht und so kann ich mit anhören, wie ein indischer Beamter am anderen Ende der Welt mit seiner Mutti telefoniert…

Zurück zur Realität: Obwohl Englisch eine von drei Amtssprachen Indiens ist, sind kaum englische Worte, statt dessen aber ein ulkiger Singsang auszumachen. In Kürze bestätigt sich jedes Klischee, dass hierzulande und in einigen amerikanischen Sitcoms gepflegt wird.

Die Tiraden der Menschen am anderen Ende der Welt hören sich eher indisch als englisch an. Hinsichtlich des Problems der Gewährung des Visums bringt dieses Telefonat keinerlei Hilfe und damit Lösungen und Erkenntnisse. Dafür entstehen unnötige Telefonkosten. Der dritte Antragsversuch klappt glücklicherweise. Die Gründe dafür bleiben verborgen. Meine Kreditkarte wird vielfach belastet.

Zusammenfassung Vorbereitungen: Sag der Bank bescheid!
Für eine Reise in den Süden Indiens benötigt man einen gültigen Reisepass, ein gültiges Visum und eine gültige Kreditkarte. Empfehlenswert ist es vor der Abreise die Bank über das Reiseziel und die Reisedauer zu informieren. Impfungen gegen Tollwut, Hepatitis A und B, japanische Enzephalitis und anderen schlimmen Seuchen und Erkrankungen sind je nach anvisierter Region teilweise sinnvoll, aber nicht generell notwendig.

Für fernreisende Menschen empfehle ich uneingeschränkt mindestens Imfungen gegen Hepatitis A und B und Tollwut und bei der ärztlichen Beratung  einen gesunden Menschenverstand – manche Ärzte preisen ihre Produkte übermotiviert an. Viele Impfstoffe entfalten ihre Schutzwirkung erst einige Wochen nach der letzten Imfpung. Indisches Geld darf weder aus- noch eingeführt werden; d.h. man geht entweder an der Geldautomaten oder wechselt in einer Wechselstube.

Hin und weg von Mumbai
Abflug. Eigentlich sind wir spät dran. Die empfohlene Reiszeit für den Süden Indiens endet mit dem Februar. Wir fliegen von Berlin nach München und von dort aus mit einer Boeing der Lufthanse ca. zehn Stunden weiter bis nach Mumbai, an die Westküste Indiens.

Aus dem Fenster des Fliegers schauend, freue ich mich darüber, dass ich den Nemrut Berg, den Süphan Berg und auch den mit über 5000m höchsten Berg der Türkei, den Ararat Berg Ostanatoliens erkennen kann. Direkt daneben steht seine kleinere Version. Außerdem kann ich sogar das kleine Örtchen Ahlat am nördlichen Ufer des Van-Sees sehen, aus dem mein Vater stammt.

Armenien, der Irak und Iran sind nur noch einen Katzensprung entfernt. Viele Flugmeilen und Stunden, zahlreiche Filme, Serien, Gin Tonics und diverste Mahlzeiten später landen wir kurz nach Mitternacht am Ziel.

Der Flughafen in Mumbai ist schon ein Ereignis, denn er ist nicht nur riesig: Die Böden sind mit Teppich ausgelegt und an den Wänden gibt es riesige Vitrinen mit Inhalten zum Bestaunen. Unwillkürlich erwacht die Phantasie, ausgeschmückt mit den Inhalten der Eingangs bereits aufgezählten durchschnittsdeutschen Klischee-Liste.

Mückenparanoia ist schweißtreibend
Bei der Gepäckausgabe bekommen wir nur unser Crashpad. Der Rucksack, in dem sich unser gesamtes Gepäck befindet, hat spontan sein Reiseziel nach Mexiko verlegt. Irritiert fahren wir also ohne Gepäck in unser Hotel. Dort haben wir bereits im Voraus ein Zimmer für drei Nächte reserviert.

Ohne unser Gepäck fehlen uns die überlebenswichtigen Abwehrmittel gegen Moskitos. Dementsprechend paranoid verhalte ich mich, denn die informativen Tiraden des Tropenarztes säuseln noch in meinem Ohr. Also kleide ich mich, für den ersten Kontakt mit der freien Wildbahn vor den Türen unseres Hotels, von oben bis unten mit langer Oberbekleidung ein.

Vorher gibt es ein erstes Frühstück auf der Dachterasse. Es gibt Fritiertes, Gebackenes und Gekochtes. Dazu Joghurt, heißen Tee und Wasser in doppelt kontrollierten Plastikflaschen. Sozusagen Mittagessen, eben nur zum Frühstück, denke ich mir. In meinem Moskitoschutzanzug ist mir – passend zu den warmen Mahlzeiten – heiß.

Nach dem Frühstück verlassen wir den klimatisierten und geschützten Bereich unserer Behausung und treten in eine wirre Mischung aus Menschen, Hupen und Hitze. Über der Stadt hängt eine Glocke aus Smog. Meine Wetter-App beschreibt das Wetter mit „Rauch“ und die Luft ist dick und feucht. Überall stehen riesige Palmen. Die Stadt ist erstaunlich grün und erstaunlich laut.

Im Straßenverkehr läuft alles falsch und ohne Ordnung. Alles spaziert und fährt kreuz und quer, jeder hupt immer und auch die Gehwege sind als solche nicht immer zu erkennen und von den Fahrbahnen zu unterscheiden. Menschen sitzen manchmal mitten auf dem Fußboden, mitten im Fußverkehr und halten ihre Vesper. Straßenhunde liegen entspannt am Straßenrand herum an. Sie wirken tiefenentspannt, obwohl die Fahrzeuge nur wenige Zentimeter an ihnen vorbei fahren. Viele Hunde haben unzählige Narben im Fell.

Rikschas und Eierköpfe ÜBERALL
Über diese Fahrbahnen brausen Motorräder, auf denen mitunter ganze Familien aufsitzen. Diese Fahrenden und ihre Passagiere sind schwer oder leicht bekleidet. Manche tragen Badeschlappen, Gewänder wehen im Wind, andere sind völlig vermummt in ihren Burkas. LKW’s röhren,  Autos brummen und es knattern unzählige Rikschas einfach hin und her.

Jeder Fahrer einer Rikscha der mich erblickt – also einer alle dreißig Sekunden einer – hupt mich an und fährt dicht an mich oder ruft feil bietend und fragend: „Rikscha ?!“ und eiert anschließend mit seinen Kopf hin und her. Nicht nur die Fahrer der Rikscha blicken mich mit eierndem Kopf an. Alle InderInnen scheinen diesen Kopfsport durchgängig zu pflegen. Sehr sehr merkwürdig.

Als Europäer fällt man sehr auf und wird ohne Unterlass freundlich angelacht, angelächelt, belächelt, oder skeptisch beäugt. Oft wird man auch angesprochen: „Hi Hello, what´s your name?“, „Hi, where are you from“, „Hello, picture?“. Einige Male lassen wir uns fotografieren. Nicht selten bildet sich eine Menschentraube um uns herum. Bei späteren Anfragen winken wir nur noch freundlich ab.

Wer hat noch alle Fingerchen?
An vielen Ecken gibt es Vieles zu Kaufen. Früchte, Gemüse, Frittiertes, Getränke, Kleidung, Äffchen, Hühner. Auch frische Kokosmilch wird angeboten. Die Verkäuferinnen und Verkäufer schlachten dazu mit einer Machete mit der einen Hand heftig hackend, die in der anderen Hand liegende Kokosnuss. Sie zeigen dabei sehr viel Geschick.

Beim Zuschauen frage ich mich, wie oft sich bei dieser Tätigkeit pro Tag der ein oder andere Finger in dieser Stadt souverän verabschiedet und rechne mit einigen hundert. Serviert wird der Saft nach Belieben im Becher oder direkt aus der Nussschale mit Strohhalm. Während der gesamten Reise habe ich keinen Kokosmilchhändler gesehen, dem Finger fehlten.

Was das Essen anbelangt gibt es viele kleine mobile Händler, die Geröstetes oder Frittiertes, Früchte oder Getränke anbieten. Leider wird in Reiseführern und von Ärzten von Salaten und frischem Obstsalat, sofern nicht selber penibel gewaschen zubereitet, abgeraten. Diesen Rat kann ich so weiter geben.

Einige Ausnahmen habe ich mir selber erlaubt, sofern der Anbieter vertrauen erweckte. Bei der Hitze ist es sicherlich schwierig auf die vielen Lassis zu verzichten, die einem überall angeboten werden. Hier und da geben wir unseren Gelüsten nach und bleiben gesund.

Der Lonely Planet ist nicht ganz zuverlässig in seinen Einschätzungen der Restaurants. Gerade die hoch angepriesenen, oft hochpreisigen, haben zwar eine luxuriöse Inneneinrichtung. Meistens ist das Essen dort aber bei weitem nicht so gut wie in den mittelpreisigen Restaurants.

Gegensätze so dicht beieinander
Reich und Arm reichen sich in Mumbai überall die Hand. Passanten sind bunt und chic in allen Farben in ihren Saris, mit Turbanen, oder ärmlich grau-braun in Lumpen, oder einfach schwarz vermummt, oder in Jeans und T-Shirt, oder in Anzügen und Kleidern in europäischem Stil.

Es gibt sehr einfache schäbige Wellblechbauten und große schöne Häuser mit großen hohen Zäunen. Klimatisierte auf hochglanz polierte kleine Läden mit Bio-Lebensmitteln sind eingerahmt in viele ganz einfache Stände mit Tischchen und Säcken vollgefüllt mit verschiedensten, leuchtend farbigen Früchten, Reis, Bohnen, Gewürzen.

Schmutz und Müll trüben das Stadtbild. Manche Gasse wurde zur Mülldeponie degradiert oder war es vielleicht immer schon. Mit jeder gekauften Plastikflasche steigt mein schlechtes Gewissen. Deswegen habe ich einen Wasserfilter dabei, den ich oft einsetze. Mensch und Hund schlafen oft direkt an der Hauptstraße im Staub. Sie liegen auf den Gehwegen, manchmal unter Plastik-Planen, oft auch unter freiem Himmel. Manche wohnen dort.

Mumbai ist sicherlich eine Reise wert, erholen kann man sich dort aber nicht. Es gibt einige interessante Ecken für kulturell Interessierte. Eine Flut von Eindrücken will verarbeitet werden und so sind wir nach drei Tagen auch sehr froh die Großstadt hinter uns lassen zu können. Wir sehnen uns nach Ruhe. Glücklicherweise kommt unser Gepäck am Morgen des dritten Tages im Hotel an, wir ziehen uns um, schultern dieses und verschwinden.

Reisen in einer Kühltruhe auf dickem Sirup
Mit einem stark klimatisierten Fernreisebus fahren wir eine ganze Nacht hindurch etwa 800 km weiter gen Süden. Die Kühlanlage weht einem eiskalt ins Gesicht und die DVD-Player bestätigen mehrfach, dass in allen Filmen à la Bollywood gesungen und getanzt wird und der Kitsch wie dicker Sirup aus den cineastischen Kanälen quillt.

Bei Tagesanbruch befinden wir uns in einem weitaus ruhigeren, ländlicheren, sehr stark bewaldeten Gebiet. Nebelschwaden hängen in den Büschen und beschlagen von außen an dem eiskalten Bus. Aus dem Fenster genieße ich die Aussicht auf Wald und filmreife Landstriche.

Insgeheim hege ich die Hoffnung mit einem Blick einen Tiger oder eine Riesenschlage oder Ähnliches zu erhaschen. Bei einer Pause am frühen Morgen gibt es eine interessante Morgentoilette:

Meine mitreisende Freundin wartet auf mich auf dem Platz vor dem Waschhaus und wird von einem Mann angesprochen. „Hello, whats your name?“, „Where are you from?“ Nach bereits routinierten Anworten geht es jedoch weiter. „Ah Germany. Do german man like small bubies?“ „Is your pussy shaved?“ (Übersetzung: Mögen deutsche Männer kleine Brüste? Bist du unten herum rasiert?) Meine Freundin dreht dem Mann demonstrativ die kalte Schulter zu. Dieser verschwindet darauf.

Später, nach einigen weiteren Stunden Fahrt, entlässt uns der Busfahrer an einer Tankstelle mitten im Nirgendwo. Auf der gegenüberliegenden Seite soll angeblich viele Stunden später ein Bus fahren. Ein Mann des Busunternehmens bemüht sich übereifrig und mit Erfolg darum unser Gepäck aus dem Bus zu laden. Danach blickt er sich verstohlen um, um sicherzugehen, dass er nicht von Kollegen beobachtet wird. Sich sicher fühlend verlangt er mit offener Hand nach Geld. Ich gebe ihm etwas.

Frisch angekommen und noch orientierungslos werden wir von einem indischen Herren angesprochen. Nach sieben Sätzen greift sich sein Fahrer unser Gepäck und schnallt dieses auf das Autodach. Wir steigen ein. Es folgt eine schöne Autofahrt auf einer schönen Landstraße und sehr netten Gesprächen. Kurz darauf verabschieden wir uns von diesem freundlichen Herren, seinem Bruder und deren Fahrer. Wir befinden uns am nächsten Ziel, Gokarna.

In Kapitel 2 packen die beiden endlich das erste mal ihre Kletterschuhe aus und machen Bekanntschaft mit ganz  besonderen Mitbewohner: Hier im CAMP4 Blog!


One Response to Bevor der erste Regen fällt: Zu Besuch bei 1,28 Mrd. Menschen – Indien Teil 1

  1. Micha M says:

    Beim nächsten Besuch in Mumbai solltest du beim Modern Juice Center in der HNAA Marg- Colaba vorbeischauen.Die leckersten Fruchtschakes in ganz Indien und garantiert ohne Diarrhö 😉

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