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Zwei Nächte im Hintergarten der Großstadt

slider2Es ist Herbst, mit farbigen Wäldern, aber diesmal auch grellgrünen Feldern. Nachts regnet es, tagsüber netterweise nicht. Für mich ist das Wetter gut und eine eiszeitliche Endmoräne in Brandenburg ein ausgezeichnetes Ziel für eine kleine Tour zu Zweit. Theo geht jetzt in die zweite Klasse und muß am Freitag noch zur Schule.

Wir machen die Übergabe an der Bushaltestelle: seine Mutter hat ihn abgeholt und kriegt den Ranzen, ich stehe fertig und bereit mit dem Gepäck im ‚Wagen‘, im Wanderkarren. Im Zug zieht die Schaffnerin die Augenbrauen weit hoch, als sie sieht, wo wir an diesem naßkalten Herbstabend hin wollen. Ob dort wohl das Ende der Welt ist?

Jagd. Gesperrt.

An der rechten Straßenseite stehen Holzschilder mit großen, rosa leuchtenden Buchstaben: „Jagd. Gesperrt.“ Statt wie geplant nach Norden gehen wir also nach Südwesten, in die Nacht hinein. Aber warum hat jeder Hochsitz eine Nummer? Wird hier überall geschossen? Mir ist unwohl dabei, und wir gehen in die Dunkelheit hinein, bis ich mich so weit beruhigt habe.  Erst kurven die Wege, etwas später geht alles rechtwinklig geradeaus, und angenehm bergab. Der Wald wechselt zwischen dunkelschwarzen Fichtenblöcken und offenerem Laubwald. An der Ecke einer frischen Rodung stelle ich das Zelt hin, nicht zu sehr verdeckt. Falls doch ein Jäger kommt, wird er unser rotes Zelt bestimmt nicht für ein Wildschwein halten.

Wir wissen nicht genau, wo wir sind. Aber mit der Karte für die grobe Orientierung und dem Kompass für die Richtung mache ich mir keine Sorgen. Es ist schon hell und wir gehen weiter bergab. Die Parzellen sind durchnummeriert, bloß stehen die Nummern nicht auf unserer Karte (Maßstab 1:100.000). Mich stört die Ordnung hier. Alle Wege sind schnurgerade und traktorbreit. Die Bäume stehen aufgereiht wie in Beeten, fertig für die Ernte. Bald kommt ein größerer Weg mit einem kleinen Knick, den wir auf der Karte erkennen können. Schon sind wir wieder genau geortet. Auch ohne GPS geht das hier prima.

Pause mit Stein

Wenn es ihm langt, fragt Theo, ob wir noch Kekse haben. Aber natürlich! Morgens packe ich lieber schnell zusammen und verzichte auf Frühstück, das muß also nachgeholt werden. Stulle mit Brot, einen Apfel, Kekse als Nachtisch, und dazu einen Schluck Wasser oder Tee.

Wildschweine haben den Wegesrand hier 25 cm tief umgepflügt. Theo buddelt mit seinem Fuß einen Stein aus, und ich freue mich: es ist ein Windkanter! Erstens ist das prima Spielzeug, der darf mit nach Hause. Und zweitens ist das für mich auch gleich eine Geschichte: Ich habe Geologie studiert, und wir befinden uns auf einer Gletschermülldeponie. Das Eis kam von Norden, wir stehen am Südhang. Vor den Gletschern aus war das Land kalt und kahl und leer, hier fegte der Sturm über die Ebene und hat den Stein geschliffen.

Jetzt schützen uns die Bäume vor dem Wind. Das Wetter hält sich wacker, es regnet tagsüber nur ein Paar Tropfen und ist recht warm. Theo behält trotzdem den ganzen Tag seine dicke Jacke an. Unter der normalen Hose trägt er eine Schicht Merinowolle, damit die Beine auch warm bleiben.

Forsttraktorenfährten

Der Wassersack ist noch halbvoll. Ich beschließe, kein Wasser zu holen im nächsten Dorf. Noch davor empfängt uns ein hölzernes Rumpelstilzchen. Die Klappe über der Infotafel daneben bietet nicht nur dem Märchentext Schutz, sondern auch verschiedenen Spinnen und einem Ohrenkneifer.

Der Himmel hat jetzt mehr blau als Wolken, und damit der Tag noch schöner wird gibt’s gleich Pausenpudding! Der nächste Waldweg fängt mit zwei tiefen, parallelen Spuren an. Theo soll nicht durch die Pfützen laufen, weil wir seine Schuhe abends nicht einfach trocknen können. Es kostet sichtlich Mühe, aber er geht nicht tief rein. Bloß beim Schlamm wird er schwach.

Wir müssen ja auch Kanäle treten zwischen den Pfützen und gucken, wie das Wasser strömt. Die Spuren der Forsttraktoren vermehren sich, bis der Weg nur noch aus Spuren im Schlamm und Pfützen in Spuren und Schlamm in Pfützen besteht. Harzig duftende Holzstapel, manchmal genug Seitenstreifen zum Gehen, meistens aber nicht. Theo geht voraus, und zeigt mir, wo ich mit meinem Wagen gehen kann.

Abendstimmungen

Die Karte verspricht ein sich schlängelnder Abzweig. Da ist er auch schon! Endlich wieder ein normaler Waldweg. Bald stehen wir vor einer riesigen Wiese mit Kühen. Dahinter wachsen ein Paar Bäume, vermutlich am Bach. Ein grünes Feld bildet die andere Talseite, hoch bis zum nahen Horizont. Links am Bildrand die Häuser des nächsten Dorfs. Die Kühe ziehen ab.

Wir sitzen und ruhen uns aus. Ich habe sogar einen echten Sitz dabei, Theo hat sein Sitzkeks (aus einer alten Isomatte). Vorbeifegende Wolken mit Sonne dazwischen, später, noch bei Tageslicht, zeigt sich der Halbmond.

Als die Sonne hinter den Bäumen verschwindet baue ich das Zelt auf und, sieheda, der Bauer kommt doch noch, im Geländewagen. Er kommt im fallenden Dunkel, ohne Licht, übers Feld angefahren. Das Zelt steht außerhalb des Elektrozauns. Ich würge den Kocher ab, springe auf und überlege, was ich sagen soll. Er hält kurz an, und fährt dann gruß- und wortlos weiter. Weggeschickt hat er uns nicht, immerhin. Schlimmstenfalls ruft er den Förster an, und ich rede mir ein, daß der bestimmt entweder gleich oder erst nach dem Sonnenaufgang kommt.

Theo hat andere Sorgen. „Tür zu!“ ruft er immer wieder. Das kleine Zelt heizt schön schnell auf, wenn man das Innenzelt zumacht. Beim Kochen ärgere ich mich: das Wasser wird doch knapp, ich verzichte auf die Suppe. Vor dem Schlafengehen gucken wir uns vom Zelt aus die Sterne an. Trotz des Mondlichts scheint die Milchstraße durch.

Heimwärts

Morgens ist es noch dunkel, und ich erfinde zwei lange Geschichten für Theo. Wir sind längst wach, als der Wecker klingelt. Ich möchte nicht abwarten, bis der Förster seine Runde macht. Im Wald folgen wir wieder den breiten Spuren, und zu Theos Freude steht plötzlich ein großer Forsttraktor da, mit Stämmen beladen.

Hoch ins Dorf folgen wir dem schlammigen Kopfsteinweg. Im Bahnhof hängt immer noch der Aushang, daß der Schalter ab dem 12.12.2004 nicht besetzt sein wird. Der Automat funktioniert aber. Und das Ende der Tour? Das ist wie damals im Kinderbuch: „Und um die schöne Mittagszeit / Da war der Kasimir zu Haus / Hier liegt er nun / Und ruht sich aus.“ Aus dem Buch Kasimirs Weltreise, Marlene Reidel, Erstauflage bei Betz, 1962, antiquarisch noch erhältlich.

Die Geschichte von einer Nacht im Hintergarten der Großstadt gibt es hier!

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Mitarbeiter CAMP4

One Response to Zwei Nächte im Hintergarten der Großstadt

  1. Hans Scholze Hans says:

    Schöne Vater Sohn Geschichte

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